Wie die Iren die Zivilisation retteten
Dichterin, Edith Sitwell, schrieb später das vergleichbare Gedicht »Still Falls the 115
Heaney, der bis zum heutigen Tage Gedichte hervorbringt, die sogar Derdriu aufhalten könnten.
In dieser Tradition herrscht Vertrauen in die Objekte sinnlicher
Wahrnehmung, die als göttliche Zeichen gesehen werden. Darüber
hinaus zeigt sich darin eine sinnliche Freude an den Herrlichkeiten der erschaffenen Welt, die einem römischen Christen höchst unangenehm gewesen wäre. Ich halte es für wahrscheinlich, daß Augustinus bei der Lektüre des »Brustharnisch« verächtlich geschnaubt hätte.
Selbst im Bekenntnis und im Brief, die ohne Zweifel aus Patricks Feder stammen, gibt es Hervorhebungen und Auslassungen, die Augustinus als unerträglich empfunden hätte. Wo findet sich in Patricks
Geschichte eine Negativbewertung der fleischlichen Gelüste? Neben dem zweideutigen Erlebnis, bei dem die Matrosen ihm ihre Brustwarzen anbieten, kommen nur zwei Passagen dem Thema Sex nahe:
Patricks Bewunderung für die wunderschöne irische Prinzessin, die er tauft, und seine Angst, daß seine weiblichen Täuflinge von den Soldaten von Coroticus zu Sexsklavinnen gemacht werden. Patrick
schweigt zum Thema Sex wie die Evangelien.
Es könnte sein, daß Patrick in seinem Bestreben, die irische Phantasie reinzuwaschen – zu taufen –, nicht so sexbesessen war wie seine Brüder auf dem Kontinent und keinen Grund sah, das Thema zu
strapazieren. Vor seiner Mission waren die sexuellen Arrangements der Iren ziemlich improvisiert. Stammes-»Ehen« von der Dauer eines Jahres, Promiskuität und homosexuelle Beziehungen unter den Kriegern in der Schlacht waren mehr oder weniger normal. Patrick war
zwar sehr erfolgreich darin, die Kriegsmoral der irischen Stämme zu verändern, aber die Sexualmoral änderte sich nur wenig. Nicht einmal die von ihm gegründeten Klöster zeichneten sich durch besondere
Hingabe an das Zölibat aus; und gegen Ende des zwölften Jahrhun-
derts berichtet Geraldus Cambrensis, die Könige des Conaill-Clans würden immer noch im Stil ihrer Vorfahren geweiht: durch öffentlich Kopulation mit einer weißen Stute.
Rain«, in dem sie den strömenden Regen während eines Luftangriffs 1940 als Gnade Christi versteht.
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Das alles sollte nicht überraschen, wenn man bedenkt, daß es cha-
rakteristische Aspekte der irischen Kultur gab, die Patrick sich zu Herzen nahm und auf denen er sein neues Christentum aufbauen
wollte. Da war unter anderem der irische Mut, den er außerordentlich bewunderte. Doch noch mehr bewunderte er den natürlichen Mystizismus der Iren, der sie bereits gelehrt hatte, daß die Welt heilig sei –
die ganze Welt, nicht nur Teile davon. Aus dieser Einsicht heraus choreographierte Patrick den heiligen Tanz des sakramentalen Lebens der Iren – ein Sakrament, das nicht auf die symbolischen Handlungen der Kirchenliturgie beschränkt war, sondern sich dem gesamten
Universum öffnete. Die ganze Welt war heilig und damit auch der
ganze Körper.
Patricks Abenteuer in der irischen Traumwelt müssen ihren kriti-
schen Punkt erreicht haben, als er sich mit dem Phänomen des Men-
schenopfers konfrontiert sah. Alle frühen Völker opferten Menschen.
Man denke nur, welches Opfer Agamemnon darbrachte: das Schön-
ste, was er besaß, seine Tochter Iphigenie. Doch dies war eine Geschichte aus der griechischen Eisenzeit, so etwas war in der romanisierten Welt, in die Patrickgeboren wurde, nicht mehr geläufig, so wie uns heute öffentliche Hinrichtungen fremd sind. Wir haben
Mühe, überhauptnoch überlieferte Elemente des Opferns zu finden: Schnittblumen, Weihnachtsbäume, Vigillichter und die Messe könnten letzte Überreste sein. Aber Tieropfer wurden in der römischen Welt noch gebracht. Sie unterschieden sich kaum von den Tieropfern, die in den jüdischen Schriften dargestellt sind, wo Tiere im Tempel geopfert wurden, als Jesus nach Golgatha geführt wurde, und das
Blut neugeborener Lämmer den Fluß trübte, der durch Jerusalem floß.
Es scheint, daß das Menschenopfer an einem bestimmten Punkt in
der Entwicklung jeder Kultur undenkbar wird und daß von da an
Tiere die Stelle der geopferten Menschen einnehmen. Die Geschichte des gefesselten Isaak in der Genesis könnte einen solchen Wendepunkt in der Geschichte der Juden symbolisieren: als Abraham von
seinem Gott gesagt bekommt, er brauche seinen einzigen Sohn nicht zu opfern und dürfe statt dessen einen Widder als Opfer darbringen.
Die
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