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Wie die Iren die Zivilisation retteten

Wie die Iren die Zivilisation retteten

Titel: Wie die Iren die Zivilisation retteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Cahill
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römischen Meinung zu überzeugen, indem er auf humorvolle Weise
    die keltische Argumentation mißbilligte: »Was könnte man Peinlicheres von unserer Kirche berichten, als daß wir behaupteten: ›Rom irrt sich, Jerusalem irrt sich, Antiochia irrt sich, die ganze Welt irrt sich; nur die Iren und Briten wissen, was richtig ist, diese Völker, die beinahe am Ende der Welt leben und, wie man sagen könnte, ein
    Pickel am Kinn der Welt sind?‹« Anders gesagt, die Meinung der
    Welt, nicht ein willkürliches römisches Gesetz, sollte die Kelten überzeugen.
    Wie trivial der Zusammenstoß war, zeigt sich besonders deutlich an einem anderen Thema der Agenda von Whitby: Es ging um die irische Tonsur, die – anders als der rasierte Kreis oben auf dem Kopf bei den Römern – am Vorderkopf von Ohr zu Ohr rasiert wurde, wobei
    die hinteren Haare lang wuchsen. Selbst in unseren Augen hätte die irische Tonsur etwas lächerlich gewirkt, doch für die Römer war sie ein Zeichen reiner Barbarei. Wie konnten Menschen, die so albern
    aussahen, allen Ernstes behaupten, daß diese absurde Tonsur ein
    Zeichen der Weihe sei? Beeindruckend an dieser Zeit insgesamt ist die enge brüderliche Kooperation zwischen Iren und Engländern. Die
    christlichen Sachsen empfingen die Iren zu allen Zeiten herzlich als ältere Brüder und Schwestern in Christus und nahmen das an, was
    diese Älteren ihnen großzügig gaben. Hätten die Christen unter-
    schiedlicher Stämme zu allen Zeiten so kooperiert, wäre die Welt eine andere geworden.
    Die Bewohner der sächsischen Klöster, die zumeist von irischen
    Mönchen gegründet worden waren, lernten von diesen die Künste
    der Schreiber und die Verehrung für das geschriebene Wort. Das Book of Lindisfarne, ein ebenso vollkommenes Beispiel irischer Schreibkunst wie das Book of Kells, ist die Arbeit von Eadfrith, dem Nachfolger Aidans als Abt von Lindisfarne – demselben Eadfrith, den Aldhelm
    von Malmesbury als englischer Student in Irland in einem Brief vor der irischen Laxheit im Umgang mit der heidnischen Literatur gewarnt hatte . Auch wenn das Evangelium von Lindisfarne – beinahe 173
    der einzige Kodex, dessen Schreiber uns namentlich bekannt ist – die Arbeit eines Engländers ist, ist es doch im Geist vollkommen irisch.
    Auch die Sachsen übernahmen die keltische Hochachtung vor der
    Vergangenheit und tradierten Geschichten von ihren alten Helden.
    Wie die Iren erzählten sie diese Geschichten oft neu und gaben ihnen einen christlichen Dreh. Beowulf, der große germano-englische Held, ist ein heidnischer Krieger, sicher, aber er wird als ein Vorbild für sächsische Männlichkeit präsentiert – treu, mutig, großzügig. Und wenn der Dichter die Geschichte erzählte, verstand das englischchrist-liche Publikum die Andeutungen: Der mit den Ungeheuern ringende
    Beowulf war eine Art mit Satan ringender Christus. Sowohl die keltischen als auch die sächsischen Mythen wurden nach und nach gewis-
    sermaßen alttestamentarisch , zwar ohne direkte Verbindung zu Abraham und Moses, aber nichtsdestotrotz symbolische Erlösungsge-schichten, in denen von einem Volk erzählt wurde, das durch Prophezeiung und Instinktzur Wahrheit gelangte und von seiner ei- genen Gottheit durch Dunkelheit und Tod hindurchgeführt wurde.
    Der griechische Denkansatz war inzwischen so gut wie ganz verlo-
    rengegangen. Die Taufe hatte die Iren zwar mit einer größeren Welt verbunden, sie aber nicht zu Athenern gemacht. Und auch wenn die
    Iren – und nun die Sachsen – die Werke der antiken Philosophen
    weiterhin kopierten, so konnten sie sie doch nicht wirklich verstehen –
    und so ging es auch den wenigen übriggebliebenen Römern des
    Westens, wie Gregor dem Großen. Die intellektuellen Disziplinen der Unterscheidung, Definition und Dialektik, die einmal den Ruhm von Männern wie Augustinus ausgemacht hatten, waren den Lesern des
    Dunklen Zeitalters unzugänglich. Ihre Weltsicht war einfach, gestützt von Mythos und Magie. Man ordnete seine Gedanken nicht mehr mit
    mathematischer Präzision; statt dessen studierte man Ähnlichkeiten und Gleichgewichte, Formen und Paradigmen, Parallelen und Symbo-le. Es war keine Welt der Gedanken, sondern eine der Bilder.
    Sogar die »Römer« in Whitby stellten ihren Standpunkt auf diese
    neue Art dar. Sie argumentierten nicht, sie operierten mit Bildern –
    eine Knochensammlung gegen die andere. Der König Northumbrias
    regierte so, wie es der römischen Seite gefällig war, weil er

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