Wie die Iren die Zivilisation retteten
Sankt Gallen in den Alpen, gegründet von jenem Mönch, mit dem Columbanus sich überworfen hatte und der zur zentralen Figur bei der
Gründung der Schweizer Kirche werden sollte. Nach Columbanus’
beleidigtem Abzug allein unter Wölfen, Bären und des Lesens un-
kundigen Alemannen, begann Gallus, geduldiger als Columbanus,
seine Nachbarn zu besuchen und sie im Glauben und in der Schrift zu unterweisen. Wir besitzen nur ein Werk aus seiner Hand, eine Predigt von solcher Ehrlichkeit, Schlichtheit und Großzügigkeit, daß wir
heute noch spüren können, was die Alemannen berührte. Im Jahre
615, als Columbanus im Sterben lag, klopfte es an Gallus’ Tür: Brüder aus Bobbio waren mit Columbanus’ Abtsinsignien gekommen, über-brachten seine zerknirschte Entschuldigung und seine Erklärung,
Gallus sei der beste unter seinen geistigen Söhnen. Im Jahre 616 erhielt Gallus, dessen Werke überall bekannt wurden, das Angebot, Bischof von Konstanz zu werden, 627 die Einladung, als Abt in das blühende Luxeuil zurückzukehren. Beides lehnte er ab. Er blieb bei seiner
Aufgabe, und als er 645 starb, hatten alle Alemannen das Evangelium gehört. Er konnte nicht wissen, daß lange nach seinem Tod an der
Stelle seines Wirkens eines der größten aller mittelalterlichen Klöster errichtet und nach ihm benannt werden sollte. Im neunten Jahrhundert stellte ein Nachfahre seines Geistes, ein Mann aus Leinster, in dem inzwischen riesigem Skriptorium des Klosters, das sich über
Bodensee erhob, ein Buch mit Auszügen aus seiner liebsten Lektüre 166
zusammen – Notizen zu einem Kommentar zur Aeneis, Exzerpte aus Hieronymus und Augustinus, einige lateinische Hymnen, etwas
Griechisches, etwas eigenwillige Naturgeschichte und auf irisch sein eigenes vollendetes Gedicht über seinen Kater Pangur Ban. Der
Schreiber, der dabei zweifellos an seine irische Heimat dachte, nahm auch diese Sentenz von Horaz auf: »Caelum non animum mutant qui trans mare current.« (»Sie ändern ihren Himmel, doch nicht ihre Seele, die den Ozean überqueren.«) Eine gute Maxime für alle Exilierten und in diesem Zusammenhang eine Erinnerung an die Beständigkeit der
irischen Persönlichkeit.
Es gibt vieles, was wir über diese Exil-Iren nicht wissen. Ihre Lehm-und Flechthütten sind längst verschwunden, ebenso die meisten ihrer kostbaren Bücher. Aber was sie kannten – die Bibel und die Literatur der Griechen, Römer und Iren –, kennen wir heute, weil sie uns diese Dinge weitergegeben haben. Die hebräische Bibel wäre auch ohne sie gerettet worden und hätte dank der verstreuten jüdischen Gemeinden bis in unsere Zeit überdauert. Die griechische Bibel, die griechischen Kommentare und ein großer Teil der Literatur des antiken Griechenland lagen in Byzanz gut aufbewahrt und könnten irgendwo noch für uns zugänglich sein – wenn wir ein Interesse daran hätten, sie aufzu-spüren. Doch die lateinische Literatur wäre ohne die Iren sicherlich verlorengegangen, und das analphabetische Europa hätte seine gro-
ßen Nationalliteraturen kaum ohne das Beispiel Irlands entwickelt –
wo erstmals eine volkssprachliche Literatur niedergeschrieben wurde.
Darüber hinaus wäre im Westen nicht nur die Schrift verschwunden, sondern mit ihr auch alle geistigen Aktivitäten, die das Denken anregen. Und als der Islam seine mittelalterliche Expansion begann, wäre er auf wenig Widerstand gestoßen – lediglich auf verstreute Stämme von Geistergläubigen, die gern eine neue Identität angenommen
hätten.
Ob dieser Zustand besser oder schlechter gewesen wäre als das,
was tatsächlich geschah, mag der Leser selbst entscheiden. Sicher ist jedoch, daß die Weißen Märtyrer, die mit ihren weißen Wollroben wie Druiden gekleidet waren, fröhlich durch ganz Europa ausschwärmten und Klöster gründeten, aus denen Städte hervorgingen wie Lumièges, 167
Auxerre, Laon, Luxeuil, Lüttich, Trier, Würzburg, Regensburg, Rheinau, Reichenau, Salzburg, Wien, Sankt Gallen, Bobbio, Fiesole und Lucca, um nur einige zu nennen. »Die Dimension, des irischen Einflusses auf den Kontinent«, gibt James Westfall Thompson zu, »ist unermeßlich. « Sankt Fursa der Visonär zog von Irland nach East
Anglia, dann nach Lagny östlich von Paris, dann nach Péronne, das bald als Peronna Scottorum, Péronne der Iren und Stadt des Fursey, bekannt wurde. Caidoc Und Fricor gingen in die Picardie. Virgil der Geometer, ein irischer Satiriker, wurde Erzbischof von Salzburg, der
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