Wie die Iren die Zivilisation retteten
glaubte, 174
daß Roms angeblicher erster Bischof, Petrus, dem Jesus metaphorisch
»die Schlüssel zum himmlischen Königreich« übergeben hatte, den
König mit diesen Schlüsseln aus dem Himmel ausschließen würde,
wenn er gegen Rom regierte.
Auch machten sich die »Römer« nicht die Mühe, eine ausführliche
Liste der Anklagepunkte aufzustellen, wie es bei den großen Kirchen-konzilen einmal üblich gewesen war. Die Iren hatten eben viele seltsame Sitten: Sie plädierten für Verschiedenheit, liebten die heidnische Literatur mehr, als gut für sie war, dachten nicht über eine einheitliche Klosterführung nach und – was wohl am schlimmsten war –
ließen sogar hin und wieder zu, daß eine Frau über sie herrschte. Aber die Synode wurde in Whitby gehalten, einem Doppelkloster nach
keltischer Art, das mit Lindisfarne zusammenhing und von der gro-
ßen Äbtissin Hilda geleitet wurde! Die römische Gruppe beschränkte ihre Ablehnung weise auf die beiden Punkte, die sie so besonders
störend fand, weil sie so sichtbar waren. Mitte des siebten Jahrhunderts hatte das Sichtbare, das Bild, eine viel größere Realität als der unsichtbare Gedanke.
Ein weiterer Grund dafür, daß diese Provinzpraktiker der Romanità viel umsichtiger agierten als zuvor, war, daß der Zusammenbruch des Reiches und der Aufstieg des barbarischen Lehenswesens die Kommunikation beträchtlich verlangsamt hatten. Ohne das effektive
Kommunikationssystem des Römischen Reiches war die Uniformität
natürlich ständig bedroht. Ungefähr anderthalb Jahrunderte lang –
von der Mitte des fünften Jahrhunderts bis zum Ende des sechsten -
hatte es, soweit wir wissen, keine formelle Kommunikation zwischen Rom und den Christen Britanniens gegeben, und erst recht nicht
zwischen Rom und Irland. Daher feierten die Kelten Ostern immer
noch nach Berechnungen, die in Rom bereits zweimal überarbeitet
worden waren. Wer sollte auch auf diesen abgelegenen Inseln wissen, was in Rom in oder out war, ganz zu schweigen von den anderen antiken Zentren des Christentums? Es war eine hervorragende Zeit
für das Gedeihen von Vielfalt, und den Iren bekam das gut.
In der zweiten Hälfte des siebten Jahrhunderts hatte der irische
Missionsdrang Hochkonjunktur; die Flut wurde in ihrer Kraft durch 175
neue Wellen englischer Missionare unterstützt, die nach dem Beispiel ihrer älteren Brüder in die germanischen Länder strömten, aus denen ihre Ahnen einmal gekommen waren. Winfrid, der Anführer der
siegreichen Partei von Whitby und von Papst Gregor II. »Bonifatius«
genannt wandte sich nach Friesland. Willibrord gründete das Kloster Echternach in Luxemburg (wo das Echternach-Evangeliar, der spektakuläre Bruder des Book of Lindisfarne, entstehen sollte), und er und Bonifatius gründeten Bischofsstühle in Ut- recht, Würzburg, Erfurt, Eichstädt und Passau. Bonifatius gründete die große Abtei in Fulda und andere Klöster in Disbodenburg, Amöneburg, Fritzlar, Buraburg und Heidenheim. Er richtete den Bischofsstuhl von Mainz wieder ein und wurde selbst Erzbischof. Mitte des achten Jahrhunderts hatten große Teile Frieslands, Sachsens, Thüringens, Bayerns und Teile von Dänemark das Evangelium angenommen.
Viele dieser Neugründungen bekamen die Bücher der Inselschrei-
ber. Bonifatius und Alcuin (der northumbrische Mönch am Hof Karls des Großen, der 782 die Leitung der Palatinischen Schule übernahm, aus der einmal die Universität von Paris werden sollte), fanden keines der Bücher, die sie benötigten, auf dem Kontinent und schickten
immer wieder dringende Nachfragen nach grundlegenden Werken an
die britischen Klöster. In Wahrheit war die Kunst der Skriptorien in den einheimischen Klöstern Italiens und Galliens praktisch unbekannt. Die Kunst der Manuskriptherstellung war aus den Werkstätten Syriens und Ägyptens nach Irland und Britannien gekommen und
erreichte den europäischen Kontinent zuletzt. Doch nun füllten sich die leeren Regale der Bibliotheken auf dem Kontinent stetig. Mitte des achten Jahrhunderts beschäftigte beispielsweise das Kloster Fulda vierzig Vollzeitschreiber.
Die irischen Verbindungen dieser englischen Mönche waren kein
Zufall. Neben dem großen Gewinn, den sie aus der intellektuellen
Atmosphäre der irischen Klöster Britanniens gezogen hatten, hatten auch viele in Irland studiert (Willibrord lebte zwölf Jahre dort) oder wurden durch irische Mönche bei ihrer Arbeit unterstützt (wie Kilian und seine elf
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