Wie die Libelle in der Wasserwaage
klangen. Diese Wörter notierte ich mir und lernte sie auswendig. Zeit genug für diese essentielle Fortbildung hatte ich immer dann, wenn Concepcion und Alejandro vor dem Fernseher saßen, also täglich.
Gianni hingegen stürzte sich in die Arbeit. Er malte wie ein Besessener. Alle paar Tage entstand ein neuer Ticker. Die Zeit unserer Zweisamkeit litt unter diesem Eifer, aber der Zweck heiligt die Mittel . Das wusste schon meine Großmutter.
*
Das erste Bild, das wir gemeinsam an den Mann brachten, war von kleinerem Format und zeigte einen Ticker, der vor einem fröhlichen Margeritenfeld aus strahlenden Farben posierte. Es ging für achttausend Euro in den Besitz eines Konsuls aus Panama über. Ein Attaché aus Mexiko begeisterte sich für eine große Collage aus relativ aktuellen Zeitungsschnipseln, markanten Worten und versteckten Tickern. Giandomenico und Gianni strichen zwölftausend Euro ein. Das Geschäft prosperierte.
Ticker vor dem Eiffelturm, Ticker in New York, Ticker mit George W. Bush, Ticker in Afghanistan, Ticker mit vielen anderen Tickern, Gianni war ungeheuer produktiv. Zu einer ernsten Krise kam es, als Weihnachten 2004 eine ungeheure Katastrophe die Welt erschütterte: Ein Tsunami tötete zweihundertdreißigtausend Menschen. Es ist furchtbar, wenn ein Mensch stirbt, sterben aber so viele, dann ist jede menschliche Vorstellungskraft gesprengt. Die Zahl wird zu einer absurden, anonymen Nummer und mit ihr die Opfer.
Für Gianni als sensiblen Künstler war das freilich anders. Er hörte zweihundertdreißigtausend Todesschreie und war wie paralysiert. Er malte Ticker vor sich gigantisch aufbäumenden Todeswellen und wollte partout nicht auf Giandomenico und mich hören, wenn wir ihm zu erklären versuchten, dass diese Werke zu aktuell und viel zu streitbar waren, um auf unserem diskreten Wege verkauft zu werden. Was, wenn irgendein naseweiser Journalist den echten Francus Ticker um eine Stellungnahme zu diesen Werken anginge?
Ich gab alles, um Gianni aus seiner Schockstarre zu befreien. Vermutlich war ich nie vorher und niemals danach eine einfühlsamere Liebhaberin. Ich setzte das ganze Repertoire ein, ich umspielte ihn mit der Leichtigkeit einer flirrenden Libelle und sorgte mit der Präzision einer geeichten Waage für die Stillung seiner Bedürfnisse.
Die Mühe trug letztendlich Früchte. Gianni erwachte allmählich aus seiner Elegie und machte mir dann einen Antrag.
Ich war überwältigt. Dieser wunderbare, begnadete Mann hatte mich auserwählt, die kleine, graumäusige Sibylle, um fortan den Weg dieser irdischen Existenz gemeinsam zu beschreiten, mit mir, seiner Auserkorenen. Wie himmlisch war das denn?
Meine Zukunft lag glasklar vor mir: Ich würde eine große Nummer im Kunstgeschäft. Gemeinsam mit Gianni war alles möglich. Wer weiß? Wozu bräuchten wir auf die Dauer Giandomenico? Wir würden unser eigenes Ding durchziehen und damit ganz groß herauskommen. Schließlich hatte ich die Beziehungen und Gianni das Talent. Es hatte mich ohnehin zunehmend mehr geärgert, dass Giandomenico und Gianni den Hauptteil der Erlöse einstrichen, wohingegen ich, die ich schließlich die Kunden heranschaffte, mit einem Bruchteil davon abgefertigt wurde. Langfristig war ich keinesfalls willens, diese Ungerechtigkeit hinzunehmen. Die neue Entwicklung war mir deshalb mehr als willkommen.
Nun konnte es endlich losgehen. Keine kleinen Klauereien, keine schmierigen Erpressungen. Nein, epochale Kunst! Die ganz große Bühne lag offen vor mir.
*
Wir feierten unsere Verlobung spontan am neunzehnten Januar 2005, einem Mittwoch. In einer kleinen Pizzeria unweit der Piazza Venezia waren ein paar Freunde von Gianni und natürlich Giandomenico zusammengekommen. Wir lachten, tranken Rotwein und aßen die herrlich krosse römische Pizza, es war ein wundervolles Fest. Gianni schenkte mir einen zauberhaften Ring aus Weißgold, verziert mit einem kleinen Brillanten. Ich war die glücklichste Verlobte der Welt.
Meiner Diplomatensippschaft hatte ich sicherheitshalber nichts davon erzählt. Es erschien mir nicht so weise, eine offizielle Verbindung zu Gianni, den sie bislang nur als feilschenden Kunstsammler kennengelernt hatten, zuzugeben. Das würde sich schon finden. Spätestens natürlich im August, wenn mein Au-pair-Jahr vorüber sein würde. Dann würde ich ihnen als gesellschaftlich Gleichgestellte gegenübertreten können. Ha! Die Welt lag offen ausgebreitet vor mir. Alles war möglich. Ich fuhr mit
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