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Wie die Libelle in der Wasserwaage

Wie die Libelle in der Wasserwaage

Titel: Wie die Libelle in der Wasserwaage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Almut Irmscher
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Minderwertigkeit seiner Mitmenschen als gegeben hinnahm und sich trotzdem wie ein liebevoller Vater voller Aufmerksamkeit zu ihnen hinabbeugte.
    Er führte eine kleine, wohlsortierte und feine Galerie in einer der zahllosen kleinen Seitengassen des barocken Rom. Er schwärmte mit typisch italienischem Overstatement von seinen Künstlern und deren Werken und lud mich ein, mich persönlich vom Glanze seiner Schätze zu überzeugen. Jung und neugierig wie ich war, nahm ich das Angebot nur zu gerne an. Mit Kunst hatte ich mich bislang nicht allzu viel beschäftigt, es war an der Zeit, das zu ändern!
    *
    Die Galerie war fulminant, ganz ehrlich. Ich war trunken von der Farbenpracht der Bilder, der tiefenpsychologischen Gewalt, mit der manche Werke über mich herfielen, der pittoresken Anmut der Skulpturen, der Freude oder der mysteriösen Unheimlichkeit, die in einigen Werken zu lauern schienen. Kunst – wie wundervoll! Sind es die Adlerschwingen der Kunst, die die menschliche Libelle aus dem Gefängnis ihrer Wasserwaage zu befreien vermögen?
    Später schloss Giandomenico mit vielen verschwörerischen Worten die Galerie hinter uns ab und führte uns auf einen letzten Vino in die kleine Bar nebenan. Er redete und redete, aber ich hörte nicht mehr zu. Ich hatte soeben ein neues Universum entdeckt!
    Gianni bemerkte die tiefe Impression, die durch die erste wirkliche Berührung meiner Seele von der Magie der Kunst ausgelöst worden war. Als er mich nach Hause begleitete, fragte er, ob ich es ihm erlauben würde, mich zu malen. Was für eine Frage. Natürlich würde ich das! Ich würde in die Ewigkeit gleiten, zart umworben vom Pinselduktus eines Meisters der Malerei. Welch ein Angebot!
    *
    Ich lag nackt auf Laken aus Satin, während er mich malte, Stunde um Stunde. Manchmal schliefen mir die Gliedmaßen ein, manchmal mussten wir beide kichern, manchmal überwältigte uns die Anspannung der Situation und wir unterbrachen den Akt mit stürmischer Liebe. Aber das Bild wurde toll. Ehrlich. Giandomenico wollte es unbedingt für seine Galerie, doch Gianni weigerte sich, es abzugeben. Es sei das intime Zeugnis seiner Liebe, so argumentierte er. Ich liebte ihn dafür.
    Berauscht von Glück, Hormonen, Farben und Abstraktion war ich ganz die Seine geworden. Mittlerweile schwebte ich hoch oben im Himmel. Wie sollte er mir also noch auf den Kopf fallen?
    *
    Eines trüben Herbstabends saßen wir, wie so oft, mit Giandomenico in der Bar. Zwischen Gianni und ihm entspann sich, ganz unschuldig, ein Gespräch über die Galerie und eine momentane Absatzkrise, die zwar nicht dramatisch war, der aber doch ein professionelles Gegensteurern gleichfalls nicht schaden könne. Dann wandte Giandomenico sich an mich.
    Da sei doch dieser Diplomatenhaushalt, in dem ich arbeitete und in welchem man, allem was ich erzählt hatte zufolge, sicherlich auch kunstinteressiert sei. Ob es vielleicht sinnvoll erscheine, das Diplomatenpaar zu einer demnächst anstehenden, anspruchsvollen Vernissage einzuladen, und ob nicht ich meine persönliche Beziehung zu dem Diplomatenpaar dazu einsetzen könne, mich für deren lohnende Anwesenheit auf just dieser Vernissage besonders zu verwenden?
    Das erschien mir völlig logisch. Meine Arbeitgeber würden ja nicht zu Schaden kommen, sondern im Gegenteil mit wahrhaftiger Kunst bereichert werden. Und nicht zuletzt konnte ich ihnen beweisen, dass ich mehr zu bieten hatte, als ein gewöhnliches Kindermädchen, nämlich Beziehungen zu prominenter Kunst! Ich willigte begeistert ein.
    Kurz darauf nahm Gianni mich beiseite. Da sei noch etwas anderes, was ich wissen müsse, raunte er mir zu.
    Mir schwirrten die Sinne, als er seine Geschichte vor mir ausbreitete. Mein bewunderter, umschwärmter Geliebter war am Ende auch nur ein ausgekochtes Schlitzohr, ein mezzorecchio , wie man in Italien zu sagen pflegt!
    Weil er als Maler zumindest bislang ziemlich unbekannt und somit bedauerlicherweise ein erfolgloses Genie sei, habe er sich etwas einfallen lassen müssen, um nicht am Hungertuche zu nagen. Dabei habe sich eine für beide beteiligten Seiten sehr erquickliche geschäftliche Kooperation mit Giandomenico entwickelt.
    Giandomenico hatte in seiner Galerie ein Gemälde des schon hinlänglich bekannten, jungen Pop-Art-Malers Francus Ticker. Dieser Ticker hatte sich darauf eingeschossen, stilisierte, seltsam starre, breitschultrige und armlose Männchen in seinen Werken auftreten zu lassen, die der Einfachheit und des besseren

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