Wie die Libelle in der Wasserwaage
aus ihrem Leben komplett zurückgezogen hatte. Er konnte die Schuld wohl nicht ertragen, so dachte ich bei mir. Umso mehr bemitleidete ich meine vom Schicksal gebeutelte Mitbewohnerin. Dieses Unglück und diese Familie, da konnte man ja nur noch saufen. Das arme Ding.
Sie bezog BAföG, aber das reichte natürlich nicht. Deshalb hatte sie geschickte Methoden entwickelt, um ihren täglichen Bedarf, der im Wesentlichen aus Rum bestand, zu decken. Sie wählte unauffällige, billige Sorten im Discounter, bescheiden, wie sie war. Wo die Überwachungskameras platziert waren, wusste sie genau, und auch, wie sie eine Flasche geschickt in ihrem übergroßen Parka verschwinden lassen konnte, während sie sich scheinbar harmlos tief vorbeugte, um ein bestimmtes Produkt aus einem unsortierten Regal herauszusuchen. Das erzählte sie mir ohne alle Ressentiments. Es erschien ihr als legitimes Mittel zum Überleben. Respekt! Ich hatte es über kleine Kosmetikartikel nicht hinausgebracht. Eine unverhohlene Bewunderung für so viel leichtfüßige Dreistigkeit konnte ich nicht leugnen.
Trotzdem ging sie mir zusehends auf die Nerven. Ich versuchte, den Begegnungen aus dem Wege zu gehen, wo immer ich konnte. Es führte so weit, dass ich erst an der Türe lauschte, um festzustellen, ob die Luft rein war, bevor ich mich leise zum Kühlschrank oder aufs Klo schlich. Das war doch nun auch kein Zustand. Echt!
Und außerdem war das, was sie tat, ja auch niveaulos. Zwar hatte ich nur kleine Objekte geklaut, doch die dienten immerhin der Verschönerung. Was man von Rum ja nicht gerade behaupten kann.
*
Zu Weihnachten schrieb mir Maria Pilar eine E-Mail. Es sei alles beim Alten, soweit, teilte sie mir mit, meine Nachfolgerin, die Engländerin, sei allerdings ein ganz anderes Kaliber. Sie nehme ihren pädagogischen Auftrag wohl wirklich ernst, singe, bastle und male mit den Kindern, die schon perfekt den englischen Kinderreim von Humpty Dumpty aufsagen könnten und sich ansonsten auch recht leidlich benähmen. Es habe da wohl mal eine Nachfrage der Polizei wegen der Bilder aus der Galerie – na, ich wisse schon – gegeben, aber das sei alles im Sande verlaufen. Im nächsten Herbst würde der Attaché wohl nach Moskau versetzt. Und wie es mir so gehe?
Ich schrieb zurück und erzählte von meiner beginnenden Karriere als Altenpflegerin. Außerdem hätte ich eine neue Liebe und es ginge mir insgesamt hervorragend. Und im Übrigen viele Grüße!
Eine Erinnerung an die missratene Vergangenheit brauchte ich nun wirklich nicht. Also ehrlich!
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Hauptsächlich aber widmete ich mich selbstverständlich der Betreuung und Versorgung der greisen Heimbewohner, das war ja meine neue Berufung, mein Lebensinhalt sozusagen, und den nahm ich ernst. Ich wollte endlich etwas Vernünftiges tun.
Unsere Station hatte zwölf Bewohner, acht Frauen und vier Männer, drei davon Ehemänner, die mit ihren Frauen ein Gemeinschaftszimmer bewohnten. Drei unserer Alten waren ziemlich dement, ein Ehemann von dieser doofen Krankheit namens Parkinson gebeutelt, zwei Frauen saßen wegen fortschreitender körperlicher Gebrechen im Rollstuhl. Naja, toll war das alles nicht. Es roch nach desolater Endzeitstimmung. Da setzte ich mich aber drüber hinweg. Ich wollte hier schließlich was bewirken und das sollte in erster Linie positiv für alle Beteiligten sein.
Zwischen den Ehepaaren zeigte sich das eingespielte Beziehungsmuster der Jahrzehnte, was ich mit Interesse beobachtete. Diese Feldstudien waren nämlich wirklich spannend. Eine der Frauen, stets leidlich gut frisiert und mit biederen, wenn auch etwas abgenutzten Kostümen bekleidet, nörgelte ununterbrochen an ihrem schon ziemlich verwirrten und schwer an der Parkinson’schen Krankheit leidenden Mann herum, der hilflos und fast wie Rettung suchend flehentlich aus seiner grauen Altmännerstrickjacke herausschaute. Aber er ordnete sich willig und ergeben seiner Frau unter. Die resolute Tucke bestimmte, wo es lang ging. Ich fragte mich, ob das schon immer so gewesen war, oder ob sie seine zunehmende Senilität geschickt als Rachefeldzug für vergangene, verlorene Machtkämpfe zu nutzen wusste.
Ein anderes Paar war sehr bemüht, keine altersbedingte Schwäche an den Tag zu legen, wie gealterte Popstars, die man nur von der Bühne wegkriegt, wenn man sie mit einer Pumpgun abschießt. Die Frau kleidete sich farbig und auf irre Weise konfus, weite Röcke, knallenge Shirts, mehrere Ketten unterschiedlicher Länge
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