Wie die Libelle in der Wasserwaage
Motivation die deutsche Sprache. Mittlerweile sprach er ein hervorragendes, fließendes Deutsch, hatte aber nie den tumben, stoßweise artikulierenden afrikanischen Akzent verloren, der mich immer an Buschtrommeln erinnerte und so exotisch meine Sinne umschmeichelte, als wäre er reine, geschmolzene Schokolade, vielleicht angereichert mit einer Prise Chili.
Anschließend hatte Tafari eine Ausbildung zum Krankenpfleger gemacht, denn es war sein Wunsch, den Menschen nützlich zu sein und zu helfen. Tafari war hervorragend in diesem Job, er war einerseits kräftig genug, andererseits mangelte es ihm im Gegensatz zu Sonja nicht an freundlichem Respekt gegenüber den Alten, obwohl einige davon wiederum nicht davor zurückscheuten, ihn ihre Ressentiments gegenüber seiner dunklen Haut und Herkunft spüren zu lassen. Was für Ignoranten!
Wenn wir in den Pausen zusammensaßen, erzählte er manchmal auch von den schönen Erinnerungen an Äthiopien. Seine Heimat sei ein magisches Land voller eindringlicher Farben und Gerüche. Es sei der eigentliche Garten Eden, denn hier liege die Wiege der Menschheit, der Anfang aller menschlichen Existenz. Hier war es, wo Adam sich aus dem Lehm des Hochlandes von Abessinien erhob und sich anschickte, gemeinsam mit Eva die Welt zu erobern und mit menschlicher Kultur, Zivilisation und natürlich leider auch Destruktion zu überziehen.
Von jeher sei Äthiopien deshalb einzigartig. Gewaltige Berge und ausgedehnte Ebenen hatten die verschiedensten Tiere und Pflanzen hervorgebracht. Üppige Vorkommen von Gold, Platin und Edelsteinen machten das Land zu einem märchenhaft-verwunschenen afrikanischen Shangri-La. Unter imposanten Baobab- und Maulbeerfeigenbäumen wandelten hochgewachsene, stolze Menschen in diesem prachtvollen Paradies, das seinen Kindern praktischerweise auch gleich noch den Kaffee und das Getreide schenkte, denn beide existenziellen Begleiter menschlicher Kultur hatten hier ihren Ursprung. Mir schwirrten die Sinne. Das klang wie ein abgedrehtes Märchen aus Tausendundeiner Nacht, oder?
Hier lag außerdem auch noch das antike Reich von Aksum, ein im Nebel mystischer Vergangenheit versunkenes Imperium. Es war eines der ersten christlichen Königreiche überhaupt, wo sich isoliert vom restlichen Afrika und von Europa eine einzigartige Kultur entwickelte, die sich von allen anderen Kulturen grundlegend unterscheidet. Sie spiegelt sich wider in eigentümlicher, farbenprächtiger Malerei, fremdartig klingender Fünftonmusik und nicht zuletzt der von würzigen Leckereien strotzenden Küche, die ich unbedingt mal probieren müsse.
Und letztlich gipfelte alle opulente Pracht im achtungsgebietenden Kaiser Haile Selassi, den die Rastafari aus Jamaika noch heute als den zurückgekehrten Messias verehren würden. Denn ihnen sei einst in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts die Krönung eines mächtigen Königs in Afrika geweissagt worden, der den Schwarzen Gerechtigkeit bringen und das Armageddon der Welt einleiten werde. Diesen König, die Wiederkehr Jesu Christi, erkannten sie dann in Haile Selassi, als er 1930 zum Kaiser gekrönt wurde.
Wow. Ich hatte ja keine Ahnung gehabt, wie spektakulär dieses Land ist, das da unten irgendwo in der Mitte dieses merkwürdigen Kontinents liegt, von dem man hier im Grunde kaum etwas weiß. Echt, hätte ich auf Anhieb auf einer Weltkarte zeigen sollen, wo Äthiopien liegt, ich weiß ja nicht, ob ich es gleich gefunden hätte. Ganz zu schweigen von Mali, Niger, Nigeria und all diesen Ländern, deren Namen ich nicht mal kenne. Eigentlich ziemlich peinlich.
Es sei eine Ehre, den Namen Tafari zu tragen, fuhr er fort, denn dieser sei Bestandteil des Fürstennamens Haile Selassis gewesen. Auch die Rastafari hätten diesen Namen übernommen, die Vorsilbe „Ras“ bedeute nichts weiter als „Oberhaupt“, also die, die an der Spitze stehen, erzählte er, während er die glatten, grünlichen Steine eines traditionellen Mancala-Spieles gedankenverloren durch seine schlanken Finger gleiten ließ, weggetragen auf den Flügelschwingen seiner Erinnerungen.
Ich war beeindruckt. Aber nicht blöd. Deshalb las ich in der Wikipedia nach. Das ist eine ungeheuer praktische Sache, heute kennt sie jeder, aber damals war sie erst vier Jahre alt. Trotzdem fand man auch 2005 schon genug Informationen, um zu sehen, dass Äthiopien alles andere als ein afrikanisches Shangri-La ist.
Denn leider redete Tafari über längst vergangene Zeiten. Heute zählte Äthiopien
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