Wie die Libelle in der Wasserwaage
nämlich zu den ärmsten Ländern der Welt. Nicht einmal jeder zweite Äthiopier hat Zugang zu sauberem Trinkwasser. Und zu seiner Beschaffung müssen Frauen und Kinder zu allem Überfluss auch noch erst mal viele Kilometer laufen. Denn Äthiopien ist ein in jeder Beziehung chauvinistisches Land. Ein Land, in dem Mädchen beschnitten werden. Nein danke, ohne mich. Das Äthiopien, von dem Tafari erzählt hatte, war nur eine längst geplatzte Seifenblase.
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Er roch nach einer irre aufregenden Mischung aus Ambra, Moschus und Zimt. Wie hätte ich ihm widerstehen können? Nach dem Fiasko mit Gianni lagen die Scherben meines gebrochenen Herzens weit verstreut, Heilung war nicht in Sicht. Oder vielleicht doch?
Seine Wohnung war wie eine Reise auf einen fremden Kontinent. Dunkelbunte Tücher schmückten die Wände, mit fremdartigen Mustern bestickte Kissen den Boden, auf dem wir saßen und seltsamen Klängen lauschten. Geheimnisvolle Düfte füllten den Raum, mischten sich mit seiner Ambra und berauschten meine Sinne. Es war der betörendste Sex, den ich je erlebt hatte. Denn alles war so andersartig, so fremd und aufregend. Tafari wurde meine Leidenschaft.
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Wir wurden ein Paar, und doch lebte jeder von uns sein eigenes Leben. Unsere Beziehung blieb unverbindlich, auch gegenüber unseren Kollegen im Heim. Im Nachhinein glaube ich, dass Tafari die Reserviertheit spürte, die aus den unverheilten Wunden resultierte, die Gianni mir geschlagen hatte. Und dass er mich nicht mit einer offiziellen Beziehung und all ihren Konsequenzen kompromittieren wollte. Denn Tafari war ein hoch sensibler und äußerst bescheidener Mensch. Echt anständig, der Typ.
Ich selbst fühlte mich hin- und hergerissen. Einerseits schmachtete ich nach der Wollust, die dieser fremdartige Mann in mir hervorrief, andererseits war ich nicht dazu bereit, mich erneut zu binden. Nicht nach all dem Fiasko, das ich erfahren hatte. Wie sollte ich jemals wieder vertrauen, lieben und mich hingeben? Niemals! Niemals wieder wollte ich solch einen bodenlosen Sturz erleben, basta! Das Leben taugt nur dann etwas, wenn man selbst die Fäden in der Hand hat. Und nur man selbst, sonst niemand.
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Das hinderte uns aber natürlich nicht daran, trotzdem schöne Stunden miteinander zu verbringen. In seiner Wohnung, an der Binnenalster, zwischen all den Touristen auf den Landungsbrücken, in der Speicherstadt. Der Winter zog durch Hamburg, doch auch bei klirrender Kälte ist diese Stadt unglaublich schön, wenn es nicht gerade regnet. Oft spazierten wir am Elbstrand in Blankenese entlang, aßen eine Kleinigkeit in einem Restaurant am Wasser und sahen den riesigen Schiffen zu, die direkt an uns vorbeifuhren, wie schwimmende Urzeitmonster, surreal und unwirklich.
Ich nahm ihn freilich nie in meine eigene Absteige mit. Ihm diese trostlose Bude vorzuführen, dazu meine abgewrackte, offensichtlich alkoholkranke Mitbewohnerin, das wäre zu ernüchternd gewesen. All die paradiesisch-exotischen Traumbilder, die unserer Beziehung den inspirierenden Odem der Begegnung von Adam und Eva gaben, wären mit einem Schlag zunichte gemacht worden. Und mein ganz privates Märchen wollte ich mir um keinen Preis kaputtmachen lassen.
Meine Zimmernachbarin wurde für mich übrigens mehr und mehr zur Plage. Sie schien keine Freunde zu haben, doch leider, nachdem sie ihre anfängliche Reserviertheit überwunden hatte, nach Gesellschaft regelrecht zu hungern. Zumindest dann, wenn sie Rum getrunken hatte. Nüchtern erlebte ich sie kaum, ich glaube, in diesem uninspirierten Zustand zog sie sich komplett zurück. Unter dem Einfluss von Rum jedoch taute sie auf und wurde gesprächig, viel gesprächiger, als es jedem Gegenüber lieb sein konnte. Erwischte sie mich auf dem Flur, dann verwickelte sie mich gleich in ein Gespräch. Nein, Gespräch ist eigentlich das falsche Wort, sie brachte es fertig, stundenlange Monologe zu führen, sie redete und redete, ohne Punkt und Komma, schlimmer noch, ohne wirklich nachvollziehbaren Inhalt. Sie laberte im Grunde einfach nur drauf los. Oh Mann, die nervte!
Aus reiner Höflichkeit hielt ich all dem stand und hörte ihr wenigstens mit einem Ohr zu. Ich war ja gut erzogen worden. Und schließlich tat sie mir mit ihrer Einäugigkeit ja auch wirklich leid, da konnte die arme Socke ja nichts zu. Sie erzählte von ihrem gefühlskalten Vater und der alkoholkranken Mutter, was es nicht gerade besser machte, und ihrem Bruder, der beim Militär Karriere machte und sich
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