Wie die Libelle in der Wasserwaage
schweres Halsband aus Gold getragen.
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Ich wurde der Station „Abendrot“ zugeteilt. Was für ein bedeutungsschwangerer, euphemistischer Name! Es grauste mich. War man so weit, dass einem das „Abendrot“ zugewiesen wurde, dann war es so gut wie aus. Nächste Station: Friedhof. Praktischerweise lag der nächste Friedhof sowieso direkt neben dem Heim. Da war wirklich mal effizient geplant worden.
Leiterin der Station „Abendrot“ war Sonja, eine dürre, schlecht gelaunte Person von vielleicht sechzig Jahren mit einer Haut wie zerknülltes Papier. Sie war stets kühl, energisch und arbeitete konzentriert. Unter ihrem Regiment lief alles nach Plan. Nie hatte sie Zeit für ein persönliches Wort geschweige denn für freundliche Zuwendung. Das festgelegte Arbeitsprogramm wurde abgewickelt, auf Teufel komm heraus. Präzise wie ein Uhrwerk. Und ohne jede menschliche Wärme. Eine schreckliche Ziege!
Die Alten behandelte sie genauso: routiniert und unpersönlich. Dabei sprach sie die Greise stets mit aufgesetzter Fürsorge in der ersten Person Plural an: Wie geht es uns heute? Wir müssen uns jetzt erst einmal kämmen. Wir sollten ein bisschen weniger essen. Wir könnten ja auch einmal einen Spaziergang machen. Hätte sie mich so angesprochen, wäre meine Antwort gewesen , ich habe jetzt keine Lust auf einen Spaziergang, aber Sie können gerne auch ohne mich gehen. Aber sie schien überhaupt keine Antworten zu erwarten, ihre Bemerkungen waren rein rhetorisch. Hätte ihr jemand geantwortet, wäre sie vermutlich vor Schreck einfach umgefallen.
Ich bewunderte die Geduld, mit der die alten Leute das ertrugen. Sie hatten doch alle einmal mit voller Kraft im Leben gestanden, und nun wurden sie wie Kleinkinder behandelt, nur weil sie alt und hilfsbedürftig waren. Bevor es mit mir selbst soweit käme, erschösse ich mich lieber. Dazu musste ich mir unbedingt irgendwo im Hinterkopf ein Memo ablegen, damit ich es in den nächsten sechzig Jahren nicht vergessen würde.
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An zweiter Stelle der Hierarchie dieser Station stand Tafari. Er war gelernter Krankenpfleger, Anfang dreißig, groß und vor allem dunkel. Denn Tafari kam aus Äthiopien. Seine Haut war straff, glatt und glänzte wie polierter, kaffeefarbener Marmor über den hervortretenden Muskeln, Adern und Sehnen. Strahlend weiße Zähne und dunkelbraune Augen, ähnlich denen der Giraffe, prägten sein Gesicht. Er war unglaublich schön. Wie die Statue eines jungen griechischen Gottes, die zu dunklem Fleisch geworden ist. Ich konnte mich nicht sattsehen. Immer, wenn ich ihn sah, schlug mein Herz höher. Was für ein toller Mann. Ein Traumprinz aus Schokolade!
Tafari war kurz vor Ende der sozialistischen Militärdiktatur aus seiner Heimat geflohen und hatte in Deutschland Asyl beantragt. Er sprach nie darüber, wie es ihm gelungen war, Deutschland zu erreichen. Auch über die Zeit davor redete er kaum. Er erwähnte den anhaltend tobenden Bürgerkrieg, dem sein Bruder zum Opfer gefallen war, und die grauenhafte Hungersnot von 1984, deren unvorstellbares Leid er als Kind miterlebt hatte. Diese Geschichten waren grandioser Horror. Zwischen fünfhunderttausend und einer Million Menschen waren damals erbärmlich verreckt, die genaue Zahl wisse niemand, so sagte er. Eine eigenartig surreale Vorstellung. Da starben all diese Menschen qualvoll in unvorstellbarer Not, und gleichzeitig erblickte ich in einem verschwenderisch reichen Land hoch im Norden das Licht dieser merkwürdigen Welt. Das kann sich doch kein Mensch vorstellen, ohne den Verstand zu verlieren, oder?
Mit 17 haute Tafari ab. Das war 1990, und weil der Westen damals noch großzügig Asyl an Flüchtlinge aus kommunistischen Ländern gewährte, hatte er Glück. Schon kurze Zeit später sollte sich das ändern, denn die Welt war im Umbruch. Mehr und mehr festigte sich die Tendenz in der Bevölkerung, lieber nicht zu viel abzugeben. Vor allem nicht an Flüchtlinge dubioser Herkunft. Und spätestens, seit der Osten sich nach Fall des Eisernen Vorhangs zu öffnen begonnen hatte und ungeahnte Massen von Menschen in die Freiheit des Westens drängten, war alles dubios. Wer anders aussah, war sowieso die erste Zielscheibe der Ablehnung.
Tafari ignorierte tapfer alles Misstrauen, das ihm entgegenschlug. Er war diszipliniert, zielgerichtet und ergriff dankbar jedes Angebot, das Asylanten damals gemacht wurde, denn er war entschlossen, etwas aus seinem Leben zu machen. Er lernte zunächst mit all seiner jugendlichen
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