Wie die Libelle in der Wasserwaage
zusammen. Wir verrichteten unseren Dienst und genossen die Freizeit. Dabei bemühte ich mich sehr, Tafari von dem unsäglichen Josef Zimbach fernzuhalten. Ich erbot mich freiwillig, den Dienst an dem schaurigen Alten zu verrichten, um meinen kaffeefarbenen Adonis vor dem boshaften Greis zu schützen.
Manchmal fragte er nach Tafari. Was denn aus dem Nigger geworden sei, ob man den endlich zurück in den Dschungel geschafft habe, aus dem man ihn einst mit einer Banane herausgelockt hätte. Diesen Fragen wich ich aus. Er wusste genau, dass Tafari noch im Heim arbeitete, denn er begegnete ihm häufig auf dem Flur oder bei den Mahlzeiten. Seine Fragen stellte er aus purer Provokation. Ich hasste Josef Zimbach. Meinen Dienst an ihm verrichtete ich vorschriftsgemäß, nicht mehr und nicht weniger, und so knapp wie irgend machbar. Gespräche versuchte ich zu meiden. Wenn ich gekonnt hätte, dann hätte ich diesen Widerling einfach standrechtlich erschossen.
Nie erzählte ich Tafari von all dem. Ich schämte mich zu sehr für den alten Teufel. Und dafür, dass ich keinen passablen Ausweg wusste. Ich musste den Alten versorgen, obwohl ich ihn am liebsten geohrfeigt und sitzengelassen hätte. Irgendwie wurde ich damit zur Hure meines Jobs. So hatte ich mir das nicht vorgestellt. Da hätte ich doch gleich auf den Strich gehen können. Das wäre am Ende bestimmt auch noch lukrativer gewesen.
*
Dann geschahen zwei Dinge fast gleichzeitig.
Eines Tages im Mai erzählte Josef Zimbach ganz beiläufig von seiner Zeit im Russlandfeldzug. Er sei ja bei den Funkern gewesen, damals, und deshalb sei er nie an offenen Kampfhandlungen oder dergleichen beteiligt gewesen. Doch die „russischen Hunde“, wie er es ausdrückte, hätten schlimme Dinge gegen die Deutschen verbrochen. Fürchterliche Sachen hätte er mit ansehen müssen. Zur Strafe seien die Russen gehenkt worden, er habe selbst die Bewohner eines ganzen Dorfes am Kirchplatz aufgehängt gesehen, ja, ja, so sei das gewesen, damals. Von diesen Gräueln berichtete er so nebensächlich, als sei das alles völlig normal.
Aber er setzte noch eins darauf, indem er anmerkte, dass es heutzutage ja nicht mehr möglich sei, mit Verbrechern kurzen Prozess zu machen. Da müsse man stattdessen für alles Verständnis haben, sagte er mit angewidertem Gesichtsausdruck. Für ihn sei die Sache klar, Rübe ab und fertig. Zack.
Die Abscheu vor dem alten Nazi schlug über mir zusammen.
Zur gleichen Zeit erlitt Frau Kremer einen schweren Schlaganfall. Sie blieb nur für kurze Zeit im Krankenhaus und wurde dann als hoffnungsloser Schwerstpflegefall zurückgebracht. Wie furchtbar, die arme Frau! Ihre Betreuung überantwortete Sonja in eisigem, unbeteiligtem Befehlston mir, wie ein knochenharter General, der gefallene Soldaten im Feld ohne jedes Mitgefühl austauscht. Im Gegenzug übernahm Tafari auf ihre Anweisung hin vermehrt meine bisherigen Aufgaben gegenüber den anderen Bewohnern, insbesondere auch Josef Zimbach. Was konnte ich schon tun?
*
Die arme Frau litt schrecklich unter ihrem Zustand. Sie konnte sich nicht bewegen, nicht mehr sprechen und gab stattdessen nur wimmernde Klagelaute von sich. Einzig ihre Augen waren beredt. Ich verstand ihre Botschaft. Frau Kremer verzehrte sich nach Erlösung. Es war grauenhaft, das mit ansehen zu müssen. Sie tat mir furchtbar leid.
*
An einem der nächsten Wochenenden lud mich Tafari zu selbstgekochtem äthiopischem Essen ein. Es war gerade Fußballweltmeisterschaft in Deutschland und das ganze Land überzogen von schwarz-rot-goldenen Flaggen und beschwingter, euphorischer Stimmung. Wohl nie zuvor hatte ich Gegensätze so stark empfunden, wie in diesen Wochen. Da war auf der einen Seite das Heim mit dem bösen, stumpfsinnigen Alt-Nazi und der unter Qualen dahinsiechenden, netten alten Frau, auf der anderen zahllose sympathische junge Deutsche in ausgelassener Partystimmung. Menschen, die sich wie niemals zuvor seit dem Zweiten Weltkrieg zu ihrem Land bekannten, ohne dabei nationalistische Hintergedanken zu haben, die einfach nur zusammen mit dem Rest der Welt die Freude des Daseins feiern wollten. Diese Gegensätze zerrten wie irrsinnig gewordene Dämonen an mir. Es fiel mir in diesen Tagen noch deutlich schwerer als sonst, diese Welt zu verstehen. Was für ein Irrsinn!
*
Tafari hatte alles für ein bombastisches Festmahl vorbeireitet. Es gab Injera, ein spezielles Brot aus Äthiopien, das nach alter Tradition sowohl als Teller als auch als Besteck
Weitere Kostenlose Bücher