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Wie die Madonna auf den Mond kam

Wie die Madonna auf den Mond kam

Titel: Wie die Madonna auf den Mond kam Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rolf Bauerdick
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Kindersarg mit den Gebeinen seines Vaters ab, erwies sich Iljas Bibel. Da es für einen Schwarzen eine schlimme Sache war, ein festes Versprechen zu geben, noch schlimmer aber, ein gegebenes Versprechen zu brechen, hielt er sich an das Gelübde, nicht in der Heiligen Schrift zu blättern, bevor er seinen Freund Ilja gefunden hatte. Weil Dimitru jedoch selbst in den düstersten Talsohlen nie den letzten Rest an Schläue einbüßte, wartete er geduldig, bis Antonia aus den zwei »Faktizitäten«, dass er einerseits eine Bibel besaß und andererseits nicht in ihr lesen durfte, die richtige »Conc1usio« zog.
    »Dirni, mein Schatz«, sagte Antonia, als sie eines Augustabends neben ihrem Planwagen im Gras lagen und sich vom letzten Licht der Sonne streifen ließen, »dein Versprechen schließt doch nicht aus, dass ich dir aus der Heiligen Schrift vorlesen darf.«
    »Meine Liebe, deine Klugheit beglückt mich. Du rezitierst, und ich memoriere. Wenn ich die Worte Gottes komplettamente auswendig im Gedächtnis behalte, kann mir mein Gelübde den Buckel runterrutschen. Am besten, wir fangen gleich an. Von Kapitel eins bis Kapitel ... Sag mal, wie viele Kapitel hat der Herrgott damals eigentlich seinen Chronisten diktiert?«
    »Viele, würde ich sagen. Sehr viele sogar.«
    Fortan las Antonia vor und fragte am nächsten Morgen die Zeilen vom Vorabend ab, die Dimitru immer korrekt mit der entsprechenden Buch-, Kapitel- und Versangabe wiedergab, außer er hatte konzentrationsfördernde Getränke zu sich genommen. Da jedoch nach der anstrengenden Kutscherei am Tag seine Aufnahmefähigkeit am Abend sehr begrenzt war, kam Antonia bei ihren Vorlesestunden oft nicht über zwei, drei Verse hinaus.
    So ergab es sich, dass die Katastrophe erst Anfang der Achtziger, im zwölften Jahr seiner Suche nach seinem Freund Ilja, über Dimitru Carolea Gabor hereinbrach. Sie waren beim Evangelium des Apostels Johannes angelangt, dem Dimitru mit aufgeregter Freude entgegenfieberte, weil ihm viele Passagen von den früheren Predigten Papa Baptistes her vertraut waren. Seine Vorfreude richtete sich auf das Ende, in dem der auferstandene Christ noch einmal zur Erde herabsteigt, um seine Wunden zu zeigen, in die der ungläubige Thomas seine Hände legen darf, um vom Heiland zu erfahren, selig seien diejenigen, die nicht sehen und doch glauben. Dimitru schätzte diesen Satz sehr, belegte doch das Wort Gottes, dass nur der Kleinmütige der sichtbaren Dinge bedurfte, aber nicht der Vertrauende, der die Wirklichkeit der Ideen zu sehen vermochte. Von allen Sätzen, die sein offenes Ohr je gehört hatte, liebte der Zigan daher, ebenso wie einst Papa Baptiste, den Beginn des Johannesevangeliums.
    »Am Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort«, las Antonia. Als sie fortfuhr, »und das Wort wurde Fleisch und wohnte unter uns«, leuchtete ihr Dimi wie ein Himmelskomet.
    »Das, meine Liebe, ist die schönste Nachricht, die je der Welt zuteilwurde.« Als Dimitru diesen Satz aussprach, wusste er nicht, dass er wenige Kapitel später verglühen sollte.
    Antonia las weiter. In den Jahren der biblischen Lektüre hatte sie sich stets jeden Kommentar verkniffen, um Dimitru nicht bei der Aufnahme des göttlichen Wortes zu verwirren. Doch dann gelangte sie zu Kapitel drei, Vers fünf des JohannesEvangeliums: »Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Wenn jemand nicht aus Wasser und Geist geboren wird, kann er nicht in das Reich Gottes kommen. Was geboren ist aus dem Fleisch, das ist Fleisch, und was geboren ist aus dem Geist, das ist Geist.« Antonia rief aus: »Das kenne ich. Das hat mein Vater Ilja einst in der Kirche von Baia Luna vorgetragen, um der Kara Konstantin zu beweisen, dass er sehr wohl in der Kunst des Lesens bewandert ist.«
    »So ist es«, sagte Dimitru. »Lies weiter.« Sodann vernahm er aus Antonias Mund die Jesusworte: »Wenn ich vom Irdischen zu euch sprach, und ihr glaubt nicht, wie werdet ihr glauben, wenn ich zu euch vom Himmlischen spreche? Und doch ist niemand aufgestiegen in den Himmel als der aus dem Himmel herabgestiegene Menschensohn.«
    »Was hast du da gerade gesagt?« Antonia wiederholte den letzten Satz.
    Dimitru entriss ihr die Bibel mit purem Entsetzen und brach sein Versprechen. Er sprach leise: »Und doch ist niemand aufgestiegen in den Himmel als der aus dem Himmel herabgestiegene Menschensohn.«
    »Was ist mit dir los, Dimitru? «, fragte Antonia ebenso bestürzt wie zutiefst besorgt über den Anblick ihres

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