Wie die Madonna auf den Mond kam
mich, ohne jeden Umstand zu prüfen, aus dem Haus Gottes verbannt hatte. Der mich verflucht hatte, verdammt zur Hölle, mich, der ich doch nur die alte Ordnung wieder herstellen wollte. Wut stieg in mir auf. Was maßte sich dieser Priester an? Was schwang er sich auf zum Richter über Gut und über Böse?
Nein, ich würde nicht zu ihm hingehen. Auch wenn Fritz Hofmann für mich in dieser Nacht als Freund für alle Zeiten gestorben war, verraten würde ich ihn nicht. Niemals würde ich zum Judas werden, um von diesem selbstgerechten Mann der Kirche die Absolution zu erbitten, und das für eine Tat, die ich nicht begangen hatte. Niemals.
Ich würde bald sechzehn sein. Ich steckte im Sumpf, irgendwo auf halbem Wege vom Jungen zum Mann. Als ich auf dem Dorfplatz von Baia Luna mitten in der Nacht an einer Kälbertränke mein blutiges Gesicht wusch, verstand ich: Ich war allein. Erstmals fühlte ich den Schmerz, keinen Vater zu haben, empfand die Leere, das Verlassensein. Nie hatte ich den Vater vermisst. Mir genügte die Fotografie, die meine Mutter an den Winterabenden hinter der Glasscheibe hervorholte. Wenn sie im Sessel saß und sich zurückt räumte zu ihrem Mann, zu Nicolai Botev, meinem Vater. Einem Unbekannten. Nun sehnte ich mich nach diesem Fremden, der in einen Krieg gezogen und nicht zurückgekehrt war. Der mir etwas genommen hatte, etwas, das abgeschnitten und verdorrt im fernen Russland lag, ein Stück meiner Wurzeln, die Quelle der Zuversicht. Ich sehnte mich nach einer festen Hand, einem starken Arm und dem vertrauenden Glauben, am Ende werde alles gut. Und doch, ich verspürte nicht nur Schmerz, nicht nur Trauer und Wut. Eine ungekannte Empfindung keimte in mir auf, drängte sich ins Bewusstsein, wuchs heran, zuerst noch trotzig, dann machtvoll und stark. In der Nacht, als in Baia Luna das Ewige Licht erlosch, erfuhr ich, ich stand allein in der Welt. Und dieses Wissen bereitete Lust. Als ich im Morgengrauen in meinem Bett lag, weinte ich bittere Tränen des Glücks. Ich fühlte mich frei.
Ich schlief noch, als die Schulglocke schrillte. Mutter und Großvater ließen mich gewähren. So bekam ich nicht mit, dass Buba Gabor kurz vor acht den Laden betrat. Zuvor hatte sie nach ihrem Onkel Dimitru gesehen, der nach dem Sturz von unserer Verandatreppe noch immer unter einem Berg von Schafsfellen lag und schlief. Später erzählte mir Buba, sie habe sich gewundert, dass ihr Onkel sich im Schlaf gedreht hatte und seine Füße auf dem Kopfkissen ruhten. Sie verschwieg allerdings, das sie in Windeseile Dimitrus Jackentaschen durchsucht und ihm ein paar Münzen stibitzt hatte.
»Junge, was ist mit dir los?«, entfuhr es meiner Mutter, als ich gegen neun die Treppe herunterkam. Ich hatte dunkle Ränder unter den Augen, und meine Haare waren zu Strähnen verklebt. »Setz dich«, befahl sie und machte sich gleich daran, meine Kopfverletzung zu untersuchen. Über der Stirn oberhalb des Haaransatzes klaffte ein Hautriss, eine, wie Mutter befand, zum Glück nicht allzu schwere Platzwunde.
»Was ist passiert? «, wollte sie wissen. Auch Großvater Ilja zeigte sich besorgt. Ich winkte ab und erzählte, ich hätte mir den Kopf an den niedrigen Türbalken unten bei den Zigeu nern gestoßen, als ich den betrunkenen Dimitru nachts zuvor nach Hause gebracht hatte. Mit der Erklärung zufrieden, holte meine Mutter Mullbinden für einen Kopfverband und verordnete mir Bettruhe. Unwirsch wies ich die Fürsorge ab.
»Ach, eh ich es vergesse«, sagte Mutter, »du hattest heute morgen Besuch. Die Buba war hier. Ich glaube, sie wollte dich zur Schule abholen.«
»Glaubst du das, oder wollte sie wirklich? Das macht Buba doch sonst nie.«
»Sie hat nach dir gefragt. Ich sagte ihr, dass du noch schläfst und vielleicht erkältet bist. Du hast doch gestern so gefroren und den halben Tag am Ofen gesessen. Buba wirkte jedenfalls enttäuscht. Dann hat sie sich Kaugummis gekauft. Eine ganze Handvoll. Unglaublich, sie riss das Silberpapier ab und stopfte alle zugleich in den Mund.«
»Ich muss zum Unterricht«, sagte ich, warf die Jacke über und trat vor die Tür. Über Nacht war es kalt geworden. Zwar brach die Sonne durch, doch man spürte, dass der Winter bevorstand. Oben in den Bergen lag schon Schnee. Vom Schulhof tönte das Geschrei der Schulkinder herüber. Ich schaute zur Kirchturmuhr. Sie stand auf Viertel nach neun. Um diese Zeit war keine Unterrichtspause. Die Lehrerin war nicht in der Schule erschienen, und ich zweifelte
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