Wie die Madonna auf den Mond kam
Schwachsinn. Maria im Himmel! Lächerlich. Absolut lachhaft.« Fritz schrie sich in Rage. »Es gibt keinen Himmel. Und es gibt auch keine Hölle.« Dann äffte er Pater Johannes nach: »> Wir verkünden, dass die fleckenlos jungfräuliche Gottesmutter Maria nach Ablauf ihres irdischen Lebens mit Leib und Seele in die himmlische Herrlichkeit aufgenommen wurde.< Scheiß auf Maria. Scheiß drauf. Sie ist nirgends. Und Gott ist auch nirgends. Gott ist tot. Euer blöder Gott ist tot. Ihr Blinden. Ihr seid Idioten. Ahnungslose, schwachköpfige Idioten.«
Zu meiner Verwunderung stellte ich fest, ich erschrak nicht. Ich stutzte nur. So hatte ich meinen Schulkameraden noch nie erlebt. Aufgebracht, bebend vor Wut. All die Schimpfkanonaden, die Fritz abfeuerte, erreichten mich zwar, doch sie prallten ab. Bomben ohne Zünder. Wirkungslose Blindgänger. Doch jetzt war er endlich da, der Streit. Vor solch einem Streit hatte ich mich stets gefürchtet, hatte Schleichwege gesucht, Auseinandersetzungen zu umgehen. Und nun war er da. Und ich staunte, verwundert über mich selbst. Der Streit machte mich nicht ängstlich, nicht zaghaft. Die Schleusen der Wut waren geöffnet, und ich war wach, mutig, lebendig. Und gelassen.
»Erzähl mir was Neues. Ich weiß längst, dass du eines Tages aus Baia Luna verschwinden wirst. Du bist wirklich keiner von uns. Du gehörst nicht hierher. Und ich weiß auch, dass du für dein Weggehen einen Preis bezahlen wirst. Bezahlen musst.«
»Ich muss gar nichts!« Fritz' hitziger Zorn wich dem Trotz. »Ich muss nichts, für nichts und für niemanden.«
Ich lachte höhnisch. Erst in der Reife meiner Jahre sollte ich erkennen, weshalb ich Fritz unrecht tat, als ich ihn aufstachelte: »Vor fünf Minuten musstest du noch müssen. Du sagtest zu Buba, du müsstest noch etwas erledigen. Und das jetzt? Um diese Zeit?«
Fritz schaute zur Kirche empor. Die Zeiger der Turmuhr waren in der Dunkelheit nicht zu erkennen.
»Du redest ständig wie ein Klugscheißer, doch es passiert nichts«, provozierte ich weiter. »Geh du nach Kronauburg, ich gehe zu Bett.«
»Warte!«
Fritz trat auf den Steinwall zu, die Verteidigungsmauer, die die Wehrkirche von Baia Luna einst vor dem Ansturm der Muselmanen schützen sollte. Er ging weiter bis zu dem Eichenportal, das zum inneren Kirchplatz führte.
»Komm mit! «, rief er. »Was willst du da?«
»Komm schon«, wiederholte Fritz. »Du willst doch, dass was passiert. Dann werde ich dir mal etwas beweisen.«
»Was?«
»Dass Nietzsche klüger ist als ihr frommen Katholiken.
Eure Kirche ist nichts anderes als die Gruft eures Gottes. Nun komm endlich.«
Ich folgte ihm. Ohne zu zögern. Geleitet nicht etwa von Fritz Hofmanns herrischem Befehlston, sondern von einem vagen Instinkt. Nietzsche! Ich hatte keinen Schimmer, was dieser Vielschreiber alles zu Papier gebracht hatte. Aber meine Neugier war geweckt. Ich hatte den Namen schon mehrfach gelesen: F. W. Nietzsche, mit goldenen Lettern auf dunkelbraune Ledereinbände geprägt. Die Bücher standen in einem Regal in der Wohnstube der Hofmanns, neben dem Plakat mit der Fackelmadonna. Fritz' Vater konnte diesem Nietzsche etwas abgewinnen. Nur was? Nietzsche selbst konnte mir gestohlen bleiben, mich interessierte etwas anderes: die undurchsichtige Existenz von Heinrich Hofmann. Er war der Einzige in Baia Luna, der etwas über die Vergangenheit der Lehrerin Barbulescu wissen musste. Fritz hatte seinen Vater und Doktor Stefan Stephanescu als gute Freunde bezeichnet. Hofmann hatte das Porträt des Parteisekretärs aus Kronauburg für Klassenzimmer und Amtsstuben fotografiert. Außerdem hatte er im Paris des Ostens jenes Bild geknipst, auf dem die hübsche Angela für Stephanescu schmachtend ihren Kussmund spitzte. Vielleicht, so hoffte ich, ließ sich über Fritz und diesen Nietzsche etwas über Heinrich Hofmann erfahren. Über seine Ansichten. Vielleicht barg dieser Nietzsche ein Mosaiksteinchen zur Lösung des Rätsels, das mir ein Mann aufgab, dem ich nicht traute, ohne benennen zu können, weshalb mir Herr Hofmann suspekt vorkam.
Als wir unterhalb des Kirchturms standen, erklang die Stundenglocke. Ich zählte zehn Schläge. Im Hof der Familie Schuster schlug der Schäferhund an. Erst mit durchdringendem Gebell, dann mit grimmem Geknurre, bis er Ruhe gab. Gleichzeitig wurde es finster. Wie immer um zehn, wenn das Elektrizitätswerk in Kronauburg den Strom für die Straßenlaternen in den Dörfern des Bezirks abschaltete.
Fritz
Weitere Kostenlose Bücher