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Wie die Madonna auf den Mond kam

Wie die Madonna auf den Mond kam

Titel: Wie die Madonna auf den Mond kam Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rolf Bauerdick
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einfach. Mit geschlossenen Augen. Den Weg, den ich Hunderte Male gegangen war. Jeden Sonntag, seit ich laufen konnte. Als die Kirchentür knarrte, ereilte mich ein Rufen. Eine Stimme überschlug sich, vielfach gebrochen vom eigenen Echo hallte sie aus dem Dunkel: »Warte! Warte auf mich! Wie soll ich denn hier rausfinden ?«
    Ich wälzte mich in meinem Bett. Großvater Ilja und meine Mutter schliefen. Aus der Kammer nebenan tönten die gleichförmigen Schnarchlaute von Tante Antonia. An Schlaf war nicht zu denken. Mein Herz pumpte das Blut so heftig durch meinen Körper, dass meine Halsadern anschwollen und mein Kopf zu bersten drohte. Seit zwei, drei Stunden schon.
    Ich stand auf, öffnete das Fenster und schaute in die Nacht.
    Einatmen, ausatmen. Einatmen, ausatmen. Die Gedanken abschalten. Ruhig werden. Ich registrierte die Stille, die über Baia Luna lag, aber ich konnte kein Teil von ihr werden. Diese Stille war trügerisch. Sie hatte keinen Ort. Sie kam aus dem Nichts.
    Fritz Hofmann hatte keinen brennenden Docht ausgeblasen, er hatte eine Grenze überschritten. Er hatte ein Verbot übertreten, das so unfraglich, so unzweifelhaft war, dass es nicht benannt, nicht ausgesprochen werden musste. Diese Grenze war unsichtbar, und doch war sie wirklich. Es war die Grenze; die Schwelle, die sich verhüllt und verbirgt und sich erst zeigt im Moment ihrer Überschreitung. Eine Schwelle, hinter der es kein Zurück gab.
    Wäre ich bloß nicht mitgegangen. Hätte ich Fritz festgehalten, hätte ihm den Stuhl weggerissen. Dann würde ich morgen zur Schule gehen, würde meine Prozentaufgaben rechnen, würde bereitwillig alles abschreiben, was Fräulein Barbulescu mir auftrug.
    Andererseits, weshalb sollte ich mich verantwortlich fühlen, schuldig für die Taten anderer? Fritz ist Fritz, und ich bin ich.
    Das war mein Freispruch, die Lossprechung vom verzehrenden Gefühl der Schuld. Aber ich hatte Fritz gewähren lassen. Hatte ihn allein gelassen mit diesem Nietzsche. Ich hatte Fritz benutzt, kühl und berechnend, damit etwas passierte, nur um etwas herauszukriegen über seinen Vater.
    Ich zog meinen Pullover an und streifte die Hose über.
    Die Schuhe in den Händen, stahl ich mich lautlos die Treppe hinunter. Im Laden langte ich nach einer Schachtel mit Zündhölzern. Dann schlich ich zum Hinterausgang, schnürte mein Schuhwerk und rannte zur Kirche. Die Pforte stand auf. Da es dunkel war, wäre ich beinahe über den schweren Samtvorhang gestolpert. Der Windfang war aus seiner Aufhängung gerissen und lag auf dem Steinboden. Ich strich ein Zündholz an und ging durch den Mittelgang zum Altarraum. Vorsichtig näherte ich mich dem Sanktuarium. Der Stuhl, auf den Fritz geklettert war, stand noch immer unter dem erloschenen Lämpchen. Es roch nach verbranntem Öl und verglostem Docht. Ich stopfte die Zündholzschachtel in die Hosentasche und kroch im Dunkeln die Altarstufen hoch. In wenigen Momenten würde alles wieder so sein, wie es gewesen war. Ich richtete mich auf. Mein Scheitel knallte gegen etwas Hartes. Krachend stürzte der Ambo um. Ein scharfer, stechender Schmerz durchzuckte mich. Ich griff mir an den Kopf und spürte, wie warmes Blut aus den Haaren quoll und zu Boden tropfte. Dann stieß jemand die Tür zur Sakristei auf. Jemand betrat den heiligen Raum, langsam, schweren Schrittes, in der Hand eine Petroleumleuchte. Johannes Baptiste. Er kam auf mich zu und hielt mir die Lampe vor das blutverschmierte Gesicht.
    »Pavel!« Den Priester traf der Schrecken der Enttäuschung. »Pavel, du! Was hast du gemacht? Was hast du bloß getan?« »Ich, ich wollte doch nur ... «
    »Raus! Hinaus aus dem Haus Gottes! «, brüllte der Priester mit einer Stimme wie Donnerhall. »Niemals! Niemals wieder wirst du dieses Haus betreten.«
    Als ich die zerschmetternde Wucht dieser Worte begriff, war Johannes Baptiste mit einem »Fahr zur Hölle« in der Sakristei verschwunden. Ich ging.
    Am Rande des Dorfplatzes beugte ich mich über einen ausgehöhlten Baumstamm, der als Viehtränke diente, und wusch mir die Hände. Ich steckte den Kopf in das kalte Wasser und spülte das klebrige Blut von Gesicht und Haaren.
    Was sollte ich tun? Mit wem sollte ich reden? Großvater Ilja würde sich jederzeit auf die Seite des Pfarrers schlagen. Meine Mutter konnte ich gleich vergessen. Und Johannes Baptiste selbst? Sollte ich ihn kommenden Tags aufsuchen und das Missverständnis klarstellen, meine Unschuld darlegen? Vor einem polternden alten Mann, der

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