Wie die Madonna auf den Mond kam
drückte die Klinke der Kirchentür, die auf Geheiß von Pater Johannes nie verschlossen sein durfte.
»Warum ist es so dunkel?«, zischte Fritz.
»Vielleicht schiebst du den Vorhang beiseite«, riet ich mit verächtlichem Ton. Ich tastete mich vor und fühlte das schwere Samttuch, das die Messbesucher an kalten Tagen vor der Zugluft schützte. Ich hob den Vorhang an, und wir bückten uns unter ihm hindurch hinein in das Kirchenschiff.
Zum ersten Mal in seinem Leben war Fritz Hofmann in einer Kirche. Die abgestandene Luft kroch in die Nase, ein muffiger Dunst aus kaltem Weihrauch, verbranntem Wachs und menschlichem Schweiß.
» Stinkt es hier immer so? «
Ich antwortete nicht und stand eine Weile still, bis sich meine Augen an das schwache Licht gewöhnt hatten. Es flackerte aus einem Öllämpchen an der Wand rechts neben dem Altarraum und tauchte das Innere des Gotteshauses in ein warm rotes Schimmerlicht. Ich schaute mich um. Alles war an seinem Ort. Rechts neben mir der Treppenaufgang zum Chorgestühl, der Taufstein, die Predigtkanzel, darunter die Sitzbänke, zweireihig getrennt für Männer und Frauen, die Kniebänke für den Empfang der heiligen Kommunion, dahinter der Sakralraum mit Ambo, dem Hochaltar mit dem Allerheiligsten und dem Bildnis des Christus Pankreator, die geschnitzten Seitenaltäre mit den Verdammten und Gerechten beim Jüngsten Gericht. Ich wusste, dass die Verfluchten sich auf den Bildtafeln die Haare rauften und mit den Zähnen knirschten, während die Geretteten jubelten und frohlockten. Jedes Detail, das mir beim sonntäglichen Messbesuch so anschaulich vor Augen stand, war da, wahrnehmbar nur als Schatten im matten Schein des Ewigen Lichts. Ich hatte gelernt, dieses Licht zeugte von der Gegenwart Christi, bürgte für seine Präsenz in Gestalt des heiligen Brotes im Tabernakel, doch nie hatte ich dem Lämpchen bei Tage Beachtung geschenkt. Doch jetzt, in der Nacht, holte sich die kleine rote Ampel alle Aufmerksamkeit zurück. Das Öllämpchen leuchtete unaufdringlich und stumm. So als wolle es die Welt nicht ins Licht stellen, sondern ihr nur ein wenig von ihrer Dunkelheit nehmen.
Fritz stiefelte durch den Mittelgang nach vorn. Die Schritte seiner Lederschuhe klackten auf dem Steinboden und hallten vom Gewölbe zurück. Am Taufbecken hielt er an und schnippte mit den Fingern in das Wasser. Einige Spritzer benetzten mein Gesicht. Dann tauchte Fritz seine Hände in das Becken und schlug mit der Linken närrische Bewegungen, die ein Kreuzzeichen parodierten.
»Siehst du«, sagte er, »ich taufe mich selbst. Mit Wasser, mit abgestandenem H zwei O.«
»Natürlich ist es Wasser«, erwiderte ich leise. »Lass uns gehen.«
»Sofort. Erst noch mein kleiner Beweis. Pass auf. Ich werde dir zeigen, wie tot euer Gott in diesem Grabmal schlummert. Und ich verspreche dir, er wird es nicht einmal merken.«
Bevor ich verstand, was gemeint war, schwang sich Fritz über die Kommunionbank in den Altarraum. Er stieg die Stufen hinauf und ergriff einen der Stühle, auf denen die Messdiener während der Predigt ihren Platz einnahmen. Dann schob er den Stuhl unter den schmiedeeisernen Lampenhalter, an dem an schmalen Ketten das rote Glaslämpchen hing. Ich sah, dass der Lichtschein auf die Liedertafel fiel, die Holzziffern verwiesen auf die Nummer 702 des katholischen Liederbuches. Großer Gott, wir loben dich war das letzte Lied, das in der Kirche gesungen worden war.
»Kein Licht leuchtet ewig«, schrie Fritz. Dann blähte er die Wangen und pustete. Die kleine Flamme flackerte, als wehre sie gegen den Tod. Eine, vielleicht zwei Sekunden lang. Dann erlosch sie.
Ich erinnere, dass mir in diesem Moment das Zigeunermädchen Buba in den Sinn kam, ihre raue Hand an meiner Wange, ihr duftendes Haar und die quäkende Stimme ihrer Mutter: »Bubbah, ist da jemand?« Als der Atem Fritz Hofmanns das Ewige Licht auslöschte, blitzte dieser Gedanke an Buba kurz auf. Ich erstaunte erneut. Mir schien, als schaute ich mich selber an, inmitten der Dunkelheit, mit dem Blick eines Fremden und zugleich vertrauten Freundes. Ich sah, was ich alles würde tun können. Ich konnte brüllen. Fritz einen Irrsinnigen schimpfen. Nach vorne stürmen, den Kirchenschänder greifen, ihn verprügeln. Die Faust in den Magen, ins Gesicht. Ich konnte weglaufen. Nach dem Pfarrer rufen. Die Glocke läuten. Alle Möglichkeiten sta nden mir offen. Ich konnte wäh len. Aber ich wählte nicht. Meine Füße zeigten mir den Weg. Ich ging
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