Wie die Madonna auf den Mond kam
gewagt, daran zu zweifeln, Pavel. Niemals. Bis ich Papa Baptiste sah. Ich sah einen alten nackten Mann auf einem Stuhl und viel, viel Blut. Da war kein Himmel mehr. Nur Erde. Nichts als Erde. Staub zu Staub. Ohne Anfang, ohne Ende. Seitdem habe ich Angst, Pavel. Du hast recht, ich habe Angst. Nicht vor dem Teufel und auch nicht vor diesem Lupu Raducanu und seiner Verbrecherbande, vor der sich alle im Dorf fürchten. Ich habe Angst, dass wir aus dem Nichts kommen und ins Nichts gehen.«
Dimitru machte eine lange Pause. Dann fragte er, ob etwa die Lehrerin Barbulescu uns in der Schule von Friedrich Nietzsche erzählt habe.
Ich verneinte. »Der Hofmann Fritz hat das mit dem Tod Gottes erwähnt und behauptet, die Kirchen seien nur sein Grab. Und Fritz' Vater hatte in seinem Wohnzimmer viele Bücher von dem Nietzsche. Bestimmt einen Meter. Ich habe nie darin gelesen. Aber was ist denn daran so gefährlich?«
»Bücher sind nie gefährlich. Gefährlich sind nur Menschen, die Bücher falsch verstehen.«
»Betest du oft? «, fragte ich unvermittelt.
»Sehr oft, mein Junge. Ein Zigeuner betet, wo er geht und steht. Und wenn du wissen willst, ob die Gebete je erhört wurden, so kann ich dir sagen: Nein. Gott ist ein schlechter Partner, wenn man was von ihm will.«
»Dann ist es doch egal, ob Gott lebt oder, wie dieser Nietzsche sagt, tot ist.«
»Nein, Pavel, das ist nicht egal. Merk dir: Wer diesen Nietzsche richtig versteht, der wird verrückt. Und wer ihn falsch versteht, der hat keine Grenze mehr. Und wer keine Grenze kennt, dem scheint alles erlaubt. Wenn der Himmel stirbt, bleibt nur die Erde. Und der ist alles egal. Die Mutter Erde ist eine schlechte Mutter. Ihr ist alles gleich. Sein Schwert reinstecken, stöhnen, gebären, fressen, sterben. Staub zu Staub. Dazwischen ein Furz aus dem Arsch des Lebens. Sonst nichts.«
Dimitru kippte den letzten Rest Schnaps in sich hinein. Die leere Flasche glitt aus schlaffer Hand zu Boden. Dann sprach er die sonderbaren Worte: »Gott stirbt, weil wir nicht ertragen, dass wir ihn töten.«
Mühsam raffte er sich von seiner Chaiselongue auf. Gezeichnet von Kummer und Destilliertem torkelte er auf die Regale zu. Obschon sturztrunken, griff er zielsicher ein Buch heraus, schlug es auf und reichte es mir. Ich setzte mich und begann zu lesen, die Geschichte vom tollen Menschen, der am helllichten Vormittag eine Laterne anzündet, auf den Markt läuft und schreit: »Ich suche Gott! Ich suche Gott!«
Draußen auf dem Flur trat jemand mit den Füßen gegen die Tür. Ich legte Nietzsche zur Seite und öffnete. Vor mir stand Buba, in der einen Hand eine Kanne mit frischem Wasser, in der anderen einen Topf mit heißem Maisbrei.
»Hab leider keine dritte Hand zum Anklopfen«, lächelte sie mich an. »Ich bringe Onkel Dimi das Essen. Das vergisst er immer, wenn er bei seinen Büchern ist.«
Dimitru schlief auf seinem roten Kanapee und schnarchte mit offenem Mund. Buba stellte die Mahlzeit auf den Fußboden, richtete ihrem Onkel die verrutschte Jacke, zog ihm die Schuhe aus und deckte ihn zu.
»Hab dich lange nicht gesehen, Pavel. Wusste gar nicht, dass du Onkel Dimi besuchst und Bücher magst.« Ich ergriff die Gelegenheit. »Hast du Zeit?« »Für dich? Willst du mir was sagen?«
Buba versuchte, ihr Strahlen zu verbergen, hockte sich nieder, den Rücken an ein Bücherregal gelehnt. Ich rückte neben sie, und aIl die bedrückenden Gedanken der vergangenen Tage flossen heraus. Ich sprach von dem fehlenden Sarg, der Suche nach dem toten Priester, der Fahrt nach Kronauburg und der Begegnung mit Kommissar Patrascu. Über den Umzug Fritz Hofmanns und seiner Mutter nach Deutschland kam ich auf die Geschichte vom Ewigen Licht. Dann holte ich die Zettelnotiz des Priesters aus der Tasche und erklärte den eigentlichen Grund meiner Anwesenheit in Dimitrus Bibliothek, sprach von der Sorge um Angela Barbulescu und mutmaßte, dass die Lehrerin am Tage ihres Verschwindens wohl ein wichtiges Buch aus der Bücherei mitgenommen habe. Und weil ich das Schweigen Bubas als das verstand, was es war, der Ausdruck der wunderbaren Gabe des Zuhörens, wurde mir mit jedem Satz leichter ums Herz, sodass es mich keine Überwindung kostete, auch von der undurchsichtigen Vergangenheit unserer gemeinsamen Lehrerin zu sprechen, von den schweinischen Fotografien des prügelnden Heinrich Hofmann und von dessen Freund, dem Parteisekretär Doktor Stephanescu, mit dem die Barbu vor Jahren eine Liebschaft hatte, die für
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