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Wie die Madonna auf den Mond kam

Wie die Madonna auf den Mond kam

Titel: Wie die Madonna auf den Mond kam Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rolf Bauerdick
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zwischen aIl den Sternen.«
    Dimitru reagierte beleidigt. »Du bist nicht lange genug zur Schule gegangen. Pavel, du verstehst das Wesen einer dialektischen Ableitung nicht. Aber ich werd's dir erklären. These:
    Maria ist auf dem Mond. Antithese: Maria ist nicht auf dem Mond. Nun zur Conclusio. Und hier liegt das Problem. Es gibt keine. Jedenfalls so lange nicht, als die Wahrheit der These nicht nach der Verifizierungsmethode bewiesen wurde.«
    Ich nickte. »Das habe ich ungefähr verstanden.« »Angenommen, ich sage ausdrücklich: Angenommen, die These ist wahr, und Maria ist tatsächlich auf dem Mond oder sonst wo im All, was meinst du, Pavel, was passiert, wenn Koroljows Kosmonauten die Madonna entdecken und ins Visier nehmen? Das dürfen wir uns gar nicht erst ausmalen. Pavel, glaubst du etwa allen Ernstes, die Atheisten würden dann sagen: >Oh, oh, liebe Muttergottes, welch eine Überraschung. Tut uns leid. Wir haben uns geirrt. Entschuldige, dass wir nicht an dich geglaubt haben. Alles nur ein Missverständnis. <«
    »Sei mir nicht böse, Dimitru, aber ich fürchte, irgendwo in deinem Kopf steckt ein ziemlich dicker Fehler.«
    Dimitru fiel zusammen wie ein welkes Blatt. »Warum sagst du so was, Pavel? Das ist es ja gerade, woran ich verzweifele. Eine falsche Ableitung, nur ein winziger Fopass, und schwups! fällt die Logik ins Loch. In meinem Hirn rast eine Lokomotive. Vielleicht kommt sie ans Ziel? Vielleicht ist sie längst entgleist? Nur wo? Ein Denker muss mit tausend Augen sehen, muss alle Seiten der Medaille betrachten, kontradiktorische Meinungen einholen, prüfen, abwägen, noch mal prüfen, bis zum bitteren Ende der Conclusio correcto. Irrwege lauern überall. Und es gibt nur einen Menschen auf dieser Welt, der mich abbringen könnte, auf falschen Pfaden zu wandeln. Nur einen. Und der ist tot! Und ich weiß nicht mal, wo seine Hülle liegt. Warum war ich nicht im Pfarrhaus, als die Mörder kamen? Warum war Papa Baptiste allein mit Fernanda? Warum hat er nicht nach mir gerufen? Hätten sie mich ruhig gemeuchelt. Ich bin nur ein Zigeuner. Aber nicht den guten Papa Baptiste. Papa Baptiste, oh, wie vermisse ich dich! Wie sehr vermisse ich deinen weisen Rat! Du musst wissen, Pavel, in den Belangen des Himmels, da machte keiner dem Papa was vor. Keiner! Sag mal, was versteckst du da eigentlich unter deinem Mantel?«
    Ich zog die Flasche Zuika hervor. »Ein Gruß von Opa.« Weil Dimitru mit ausgebreiteten Armen erneut zu einer Zuneigungsattacke ansetzte, der ich mich mit einem Sprung zur Seite entzog, küsste er die Flasche ab. »Die Welt«, sprach er beseelt, »steht noch lange nicht am Abgrund.« Dann drehte er die Flasche auf, warf den Korken in die Ecke und trank.
    Außer in der Schule las ich so gut wie nie, und ich hatte die Bibliothek auch nicht mit der Absicht betreten, dies zu ändern. Meine Neugier galt nicht den vielen Büchern, die hier aufgereiht waren, sondern allein jenem ominösen Buch, das meinen Überlegungen nach fehlte. Doch ich war unsicher, ob jetzt der richtige Zeitpunkt war, Dimitru darauf anzusprechen, welches Buch die Lehrerin Angela Barbulescu aus der Bibliothek mitgenommen hatte. Anstatt Baptistes Notizzettel aus der Tasche zu holen, fragte ich: »Dimitru, hast du in deiner Bücherei auch die Schriften eines gewissen Nietzsche?«
    Der Zigeuner sprang auf, wie von einer Hornisse gestochen, und wirbelte seine Hände zu wilden Kreuzzeichen über Brust, Schulter und Stirn. Glucksend kippte er die halbe flasche Zuika in sich hinein. »Der ist nichts für einen Jungen wie dich! Wenn du seine Elaborationen lesen willst, so muss ich dir in meiner Verantwortung als Direktor der Bibliothek die Ausleihe verweigern.«
    Ich preschte vor. »Du hast bloß Angst, Dimitru. Du willst nicht, dass ich lese, dass Gott tot ist. Du hast Angst, dass dieser Nietzsche die Wahrheit gesagt hat. Ist Gott tot, sind nämlich alle deine Hypothesen sinnlos. Dann gibt es keine Maria am Himmel. Stimmt's?«
    Er schloss die Augen und schaute unbewegt zur Decke. Ich bereute, dass ich Dimitru so kaltherzig angegangen hatte. Eine Ewigkeit verstrich, bis der Zigan kaum merklich mit dem Kopf nickte. Dann öffnete er die Augen und riss seinen Kopfverband herunter. Ich fuhr zusammen, als ich die blutverkrustete Stirn sah, und hörte die bedachtsamsten Sätze, die ich bis dahin von Dimitru Carolea Gabor vernommen hatte.
    »Wir kommen von Gott, und wir gehen zu Gott. Alpha und Omega, Anfang und Ende. Niemals hätte ich

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