Wie die Madonna auf den Mond kam
Welt des Wissens<, habe ich zu ihr gesagt. Nicht nur einmal. Zigmal. Sie war schließlich Lehrerin. Sie versprach mir immer: >Dimitru, irgendwann besuche ich dich. Ganz bestimmt.< Aber, wie man weiß, das Wesen der Frau ist launenhaft.«
»Stimmt nicht«, warf Buba ein. »Sie war am 6. November hier, nur du warst nicht da.«
»Aber was hat sie gewollt? Dimitru, kannst du herausfinden, ob irgendein Buch fehlt?«
Der Zigeuner schloss die Augen. Buba legte den Zeigefinger auf ihre Lippen und deutete mir, nun zu schweigen.
»Hier fehlt kein Buch«, tat Dimitru nach einer Weile kund, »trotzdem, etwas in diesem Raum ist verändert.«
Zu meiner Verblüffung trat Dimitru auf eine der Bücherwände zu, nahm zwei, drei Schritte Anlauf und schwang sich in den Handstand. Seine Füße stützte er an einem Regal ab und lieferte für sein befremdendes Gebaren die Erklärung: »Wir schauen, aber wir sehen nicht. Die Dinge zeigen sich dem, der die Welt auf den Kopf stellt.«
Ich staunte stumm. Zuerst glaubte ich, Dimitrus schmächtige Arme würden ihn nicht lange tragen, dann musste ich einsehen, er fiel in einen seltsamen Zustand sich verflüchtigender Schwere. Über eine Stunde verharrte er kopfunter an der Bücherwand. Mit offenen Augen. Doch plötzlich kippte Dimitru wie ein Sack zur Seite weg, schaute verdutzt, scheinbar ohne jede Erinnerung an sein verschrobenes Tun. Dann sprach er: »Alle Bücher, die in diesen Raum gehören, sind hier. Angela Barbulescu hat kein Buch mitgenommen. Sie hat das Gegenteil gemacht: Sie hat nichts genommen, sie hat etwas gegeben. Sucht es, und ihr werdet es finden. Irgendwo zwischen den anderen Büchern. Es ist eine grüne Kladde. Vorn auf dem Deckel ist ein Bild mit einer roten Rose. Es kann aber sein, dass das Bild schon abgeblättert ist. Verzeiht, wenn ich mich jetzt zum Schlafen lege. Ich bin sehr, sehr müde.«
Buba stützte ihren Onkel bei den Schritten zu seiner Liege.
Minuten später zog sie das besagte Buch aus einer der Regalreihen.
Wir setzten uns vor die Bücherwand, an der wir abends zuvor unsere Freundschaft besiegelt hatten. Mit zitternden Händen schlug Buba ein Poesiealbum in grünem Leineneinband auf. Auf dem Deckel fanden sich Reste von eingetrocknetem Klebstoff. Schulmädchen wie Julia Simenov und Antonia Petrov besaßen ähnliche Büchlein, die sie untereinander tauschten. Dieses Album jedoch gehörte einer erwachsenen Frau. Ich hatte es schon einmal gesehen, kurz nur, als die Barbu eine Fotografie herausgerissen und anschließend Stefan Stephanescu zu Asche verbrannt hatte. Auf der Innenseite des Buchdeckels waren mit einem Lineal verblichene Bleistiftlinien gezogen. Darauf stand in Jungmädchenschrift: »Dieses Buch darf nur lesen, wer die Erlaubnis hat von: Angela Maria Barbulescu. Strada Bogdan Voda 18, Popesti.«
»Popesti! «, stieß Buba aus, »das kenne ich. Das liegt in der Nähe der Hauptstadt. Da wohnt Onkel Salman, wenn er nicht gerade geschäftlich unterwegs ist.«
Buba schlug die erste Seite auf. Der erste Eintrag stammte vom 17. September 1930. »Früh geblüht ist schnell verwelkt. Deine Freundin Adriana.« Drei Tage später reimte eine Juliana Dinescu: »Die Liebe macht uns königlich, den Hass behalt allein für dich«, und eine »allerbeste Freundin« namens Alexa riet: »Bin ich nicht da, und bist du fern, denk stets daran, ich hab dich gern.« Vom 2. Oktober datierte: »Glaube stark und hoffe fest, auch wenn dich das Glück verlässt. Deine Lehrerin Aldene Dima.« Wir übersprangen die nachfolgenden Sinnsprüche, die Schulkameradinnen, Freundinnen und Tanten in das Album geschrieben hatten. Ein Spruch war unterzeichnet mit »Deine Mutter« und war mit dem Datum 24. Dezember 1931 versehen: »Wer nicht hofft, wird nicht enttäuscht.« »Das stimmt nicht, Pavel«, sagte Buba leise. »Wer nicht hofft, der ist kein Mensch aus Fleisch und Blut.«
Ich schätzte, dass Angela Barbulescu in dem Jahr, aus dem die ersten Eintragungen stammten, um die zehn oder zwölf Jahre alt gewesen sein musste und in Popesti zur Schule gegangen war. Ich überschlug die Daten und stellte überrascht fest, wenn die Barbu im Jahr 1930 zehn gewesen war, musste sie heute etwas älter als Mitte dreißig sein. »Sie sah immer viel älter aus, wenn sie vor der Klasse stand.«
»Sie war verbraucht«, schätzte Buba, »weil sie keinen Mann abgekriegt hat.«
»Oder zu viele.«
Bei der nächsten Eintragung, die noch immer die Handschrift eines Mädchens trug, fehlte das Datum.
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