Wie ein einziger Tag
und betrachtet die Pillen. An ihrem Blick erkenne ich, daß sie keine Ahnung hat, wofür sie gut sein sollen. Mit beiden Händen ergreife ich meinen Becher und schütte die Pillen in meinen Mund. Sie macht es ebenso. Keine Kämpfe heute. Das macht es leichter. Ich hebe mein Glas, wie um einen Toast auszusprechen, und spüle den bitteren Geschmack mit meinem Tee herunter. Sie folgt meinem Beispiel.
Vor dem Fenster beginnt ein Vogel zu singen, und wir wenden uns beide um. Eine Weile sitzen wir still da und genießen gemeinsam etwas Schönes. Dann fliegt er davon, und sie seufzt.
»Ich möchte dich noch etwas anderes fragen«, sagt sie.
»Was immer es ist, ich versuche, eine Antwort darauf zu geben.«
»Es ist aber schwer.«
Sie schaut mich nicht an, und ich kann ihre Augen nicht sehen. Das ist ihre Art, ihre Gedanken vor mir zu verbergen. Manche Dinge ändern sich nie.
»Nimm dir Zeit«, sage ich. Ich weiß, was sie fragen wird Schließlich wendet sie sich mir zu und schaut mir in die Augen. Sie schenkt mir ein sanftes Lächeln, ein Lächeln wie für ein Kind, nicht für einen Liebenden.
»Ich möchte deine Gefühle nicht verletzen, weil du so nett zu mir gewesen bist, aber…«
Ich warte. Ihre Worte werden mir weh tun. Sie werden ein Stück aus meinem Herzen reißen und eine Wunde hinterlassen.
»Wer bist du?«
Wir leben jetzt schon seit drei Jahren hier im Creekside-Pflegeheim. Es war ihr Entschluß, hierherzukommen, einerseits weil es nahe bei unserem Haus liegt, aber auch weil sie dachte, daß es für mich leichter wäre. Wir haben unser Haus mit Brettern vernagelt, weil keiner von uns den Gedanken ertragen hätte, es zu verkaufen, haben ein paar Papiere unterzeichnet und so die Freiheit, für die wir ein Leben lang gearbeitet haben, eingetauscht gegen einen Platz zum Leben und zum Sterben.
Sie hatte natürlich recht mit ihrer Entscheidung. Ich hätte es niemals allein schaffen können, denn Krankheit hat uns beide heimgesucht. Wir befinden uns in den letzten Minuten des Tages, der unser Leben ist, und die Uhr tickt. Laut. Ich frage mich, ob ich der einzige bin, der sie vernimmt.
Ein pochender Schmerz durchzuckt meine Finger und erinnert mich daran, daß wir uns, seitdem wir hier sind, nie mehr, mit ineinander verschlungenen Fingern, die Hand gehalten haben. Ich bin traurig darüber, aber es ist meine Schuld, nicht ihre. Es ist die Arthritis, Arthritis in ihrer schlimmsten Form, rheumaartig und weit fortgeschritten. Meine Hände sind verunstaltet und pochen fast unaufhörlich, solange ich wach bin. Ich betrachte sie und wünsche sie weg, amputiert, dann aber könnte ich die kleinen notwendigen Dinge des Alltags nicht mehr verrichten. So benutze ich denn meine Klauen, wie ich sie häufig nenne, und jeden Tag ergreife ich trotz des Schmerzes ihre Hände und bemühe mich, sie zu halten, weil sie es so will.
Auch wenn die Bibel sagt, daß der Mensch hundertzwanzig Jahre alt werden kann, möchte ich das nicht, und ich glaube nicht, daß mein Körper es durchhalten würde, selbst wenn ich es wollte. Er zerfallt, stirbt ab - stetige Erosion im Innern und an den Gelenken. Meine Hände sind nutzlos, meine Nieren beginnen zu versagen, und mein Herz wird immer schwächer. Und, was noch schlimmer ist, ich habe wieder Krebs, dieses Mal an der Prostata. Dies ist mein dritter Kampf mit dem unsichtbaren Feind, und er wird mich am Ende besiegen, allerdings nicht, bevor ich gesagt habe, daß es an der Zeit ist. Die Ärzte sind besorgt meinetwegen, ich aber bin es nicht. Dazu habe ich am Abend meines Lebens keine Zeit.
Von unseren fünf Kindern leben noch vier, und obwohl es schwierig für sie ist, besuchen sie uns oft. Dafür bin ich sehr dankbar. Doch auch wenn sie nicht da sind, sehe ich sie jeden Tag leibhaftig vor mir, jeden von ihnen, und das erinnert mich an das Glück und den Schmerz, die mit dem Aufziehen einer Familie einhergehen. Zahlreiche Fotos von ihnen schmücken meine Zimmerwände. Meine Kinder sind mein Erbe, mein Beitrag zur Welt. Ich bin sehr stolz. Manchmal frage ich mich, was meine Frau von ihnen denkt, während sie träumt. Ob sie überhaupt an sie denkt oder überhaupt träumt? So vieles an ihr verstehe ich heute nicht mehr.
Ich frage mich, was mein Vater von meinem Leben hielte und was er an meiner Stelle tun würde. Seit fünfzig Jahren habe ich ihn nicht mehr gesehen, und er ist nur noch ein Schatten in meiner Erinnerung. Ich sehe ihn nicht mehr deutlich vor mir; sein Gesicht liegt im Dunkeln,
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