Wie ein einziger Tag
wie kalt mein Körper ist. Selbst das Lesen in der Morgensonne hilft da nicht. Dennoch wundert mich das inzwischen nicht mehr, mein Körper folgt jetzt seinen eigenen Gesetzen.
Aber ich bin nicht eigentlich unglücklich. Die Menschen, die hier arbeiten, kennen mich und meine Fehler und tun, was sie können, um es mir behaglicher zu machen. Sie haben mir heißen Tee auf den Tisch gestellt, und ich greife mit beiden Händen nach der Kanne. Es strengt mich an, den Tee in die Tasse zu gießen, aber ich tue es, weil mich der Tee wärmt und weil ich denke, daß mich die Anstrengung vor dem völligen Einrosten bewahrt. Aber eingerostet bin ich längst, daran besteht kein Zweifel. Verrostet wie ein Schrottauto nach zwanzig Jahren im Regen.
Ich habe ihr heute morgen vorgelesen, wie ich es jeden Morgen tue, weil ich es tun muß. Nicht aus Pflicht, sondern aus einem anderen, romantischeren Grund. Ich wünschte, ich könnte das jetzt erklären, aber es ist noch früh, und vor dem Mittagessen läßt sich nicht gut über Romantik reden, jedenfalls gilt das für mich. Außerdem weiß ich nicht, wie es ausgehen wird, und ich möchte, wenn ich ehrlich bin, meine Hoffnungen nicht zu hoch schrauben.
Wir verbringen jetzt jeden Tag miteinander, nicht aber unsere Nächte. Die Ärzte sagen mir, daß ich sie nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr sehen darf. Ich verstehe die Gründe zwar, aber obwohl ich sie billige, halte ich mich nicht immer daran. Spät abends, wenn mir danach zumute ist, schleiche ich mich aus meinem Zimmer hinein in ihres und beobachte sie, während sie schläft. Sie weiß nichts davon. Ich stehe da, sehe, wie sie atmet, und bin mir sicher, daß ich nie geheiratet hätte, wenn es sie nicht gegeben hätte. Und wenn ich ihr Gesicht betrachte, ein Gesicht, das ich besser kenne als mein eigenes, weiß ich, daß ich ihr mindestens ebensoviel bedeutet habe. Und das wiederum bedeutet mir mehr, als ich zu erklären vermag.
Manchmal, wenn ich dort stehe, denke ich, wie glücklich ich bin, fast neunundvierzig Jahre mit ihr verheiratet gewesen zu sein. Nächsten Monat ist unser Hochzeitstag. Fünfundvierzig Jahre lang hörte sie mein Schnarchen, danach haben wir getrennt geschlafen. Ich schlafe nicht gut ohne sie. Ich wälze mich im Bett und sehne mich nach ihrer Wärme, liege den größten Teil der Nacht mit geöffneten Augen da und sehe die Schatten an der Decke tanzen wie Steppenläufer, die über die Wüste fegen. Wenn ich Glück habe, schlafe ich zwei Stunden, doch ich bin wach, bevor der Tag dämmert. Das ergibt für mich keinen Sinn.
Bald wird alles vorbei sein. Ich weiß es. Sie nicht. Die Eintragungen in mein Tagebuch sind kürzer geworden und nehmen weniger Zeit in Anspruch. Ich formuliere knapp und einfach, denn meine Tage sind jetzt nahezu gleichförmig. Aber heute abend will ich ein Gedicht abschreiben, das eine der Schwestern für mich herausgesucht hat, weil sie glaubt, es wird mir Freude machen. Es lautet:
Noch niemals zuvor traf mich so plötzlich Der süßen Liebe Strahl und Wort -Ihr Antlitz glich der Blume, so lieblich, Und trug mein Herz ganz mit sich fort.
Da wir über unsere Abende frei verfügen können, hat man mich gebeten, die anderen aufzusuchen. Gewöhnlich tue ich das, denn ich bin der Vorleser und werde gebraucht -jedenfalls sagen sie das. Ich laufe durch die Flure und lasse mich treiben, wen ich besuche, weil ich zu alt bin, um mich einem Zeitplan zu unterwerfen, aber tief im Innern weiß ich stets, wer mich braucht.
Sie sind meine Freunde, und wenn ich ihre Tür öffne, blicke ich in Zimmer, die genauso aussehen wie das meine - immer halbdunkel, nur vom »Glücksrad« im Fernsehen erleuchtet. Auch die Möbel sind überall gleich, und der Fernseher plärrt überlaut, weil niemand mehr gut hören kann.
Egal ob Männer oder Frauen, sie lächeln mir zu, wenn ich eintrete, und wenn sie ihren Fernseher ausschalten, flüstern sie nur noch: »Wie schön, daß Sie gekommen sind.« Und dann erkundigen sie sich nach meiner Frau. Manchmal erzähle ich ihnen von ihr. Zum Beispiel von ihrer Liebenswürdigkeit und ihrem Charme und wie sie mich gelehrt hat, die Welt von ihrer besten Seite zu betrachten. Oder ich erzähle ihnen von den frühen Jahren unseres Zusammenlebens und erkläre, daß wir wunschlos glücklich waren, wenn wir uns in sternenklaren Nächten umarmten. Bei besonderen Anlässen erzähle ich auch leise von unseren gemeinsamen Abenteuern, von Kunstausstellungen in New York und Paris oder
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