Wie ein einziger Tag
sich vorstellen konnte, was drin stand. Sicher irgend etwas eher Belangloses - über Dinge, die er inzwischen getan hatte, Erinnerungen an den Sommer, vielleicht ein paar Fragen, auf die er eine Antwort erwartete. Statt dessen nahm sie den letzten Brief, den untersten des Stapels. Den Abschiedsbrief. Der interessierte sie weit mehr als alle anderen.
Der Brief war dünn. Ein Briefbogen, vielleicht zwei. Was immer er geschrieben hatte, es war nur wenig. Erst betrachtete sie die Rückseite des Umschlags, kein Name, nur eine Adresse in New Jersey. Sie hielt den Atem an, als sie ihn mit dem Fingernagel aufriß.
Als erstes las sie das Datum: März 1935. Zweieinhalbjahre ohne Antwort.
Sie stellte sich Noah an seinem alten Schreibtisch vor, über die richtigen Worte grübelnd, mit der Gewißheit, daß dies der letzte Brief sein würde. Und sie glaubte, Spuren von Tränen auf dem Papier zu erkennen. Doch das war wohl nur Einbildung.
Im Sonnenlicht, das jetzt durch ihr Wagenfenster schien, glättete sie den Bogen und begann zu lesen.
Liebste Allie, ich weiß nicht, was ich Dir noch sagen soll, nur, daß ich die letzte Nacht nicht schlafen konnte, weil mir klar wurde, daß es endgültig aus ist zwischen uns. Es ist ein seltsames Gefühl für mich, mit dem ich niemals gerech net habe, aber rückblickend wird mir klar, daß es wohl so enden mußte.
Du und ich, wir waren zu verschieden. Wir stammten aus zwei verschiedenen Welten, und doch bist Du es gewesen, die mich den Wert der Liebe gelehrt hat. Du hast mir gezeigt, was es bedeutet, einen anderen zu schätzen und zu achten, und ich bin dadurch ein anderer, ein besserer Mensch geworden. Ich möchte, daß Du das niemals vergißt.
Ich bin nicht verbittert über das, was geschehen ist. Im Gegenteil. Es ist ein tröstliches Gefühl zu wissen, daß unsere gemeinsame Zeit kein Traum war, sondern Wirklichkeit. Ich bin glücklich, daß uns das Schicksal zusammengeführt hat, auch wenn es nur für so kurze Zeit war. Und sollten wir uns je an einem fernen Ort Wiedersehen, werde ich Dir freundlich zulächeln und mich an unseren Sommer erinnern, den Sommer, den wir unter Bäumen verbrachten, um voneinander zu lernen und an unserer Liebe zu wachsen. Und vielleicht wirst Du für einen kurzen Augenblick auch so empfinden, wirst zurücklächeln und dich an die Zeit erinnern, die uns für immer verbindet.
Ich liebe Dich, Allie, Noah Sie las den Brief noch einmal, langsamer diesmal, und noch ein drittes Mal, ehe sie ihn zurück in den Umschlag steckte. Wieder stellte sie sich Noah an seinem Schreibtisch vor, und einen Augenblick lang war sie versucht, auch die anderen Briefe zu lesen. Doch sie durfte Lon nicht länger warten lassen.
Als sie aus dem Wagen stieg, zitterten ihr die Knie.
Sie hielt inne, atmete tief durch, und während sie den Parkplatz überquerte, kam ihr zu Bewußtsein, daß sie immer noch nicht wußte, was sie ihm sagen würde.
Erst als sie die Tür öffnete und Lon in der Eingangshalle stehen sah, wurde ihr klar, was sie sagen mußte.
Winter für
Hier endet die Geschichte, und so schließe ich mein Tagebuch, nehme meine Brille ab und reibe mir die Augen. Sie sind müde und gerötet, haben mich bis jetzt aber dennoch nicht im Stich gelassen. Doch das werden sie bald, ich weiß es. Weder sie noch ich können ewig so weitermachen. Jetzt, nachdem ich zu Ende gelesen habe, schaue ich sie an, sie aber blickt nicht zurück. Statt dessen starrt sie aus dem Fenster in den Hof, wo sich Freunde und Verwandte treffen.
Meine Augen folgen den ihren, und wir schauen gemeinsam zu. In all diesen Jahren hat sich der Tagesablauf nicht geändert. Jeden Morgen, eine Stunde nach dem Frühstück, treffen die ersten ein. Junge Leute, allein oder mit ihrer Familie, besuchen diejenigen, die hier leben. Sie bringen Fotos und Geschenke mit und sitzen entweder auf den Bänken oder spazieren über die von Bäumen gesäumten Wege, die einen Eindruck von Natur geben sollen. Einige bleiben den ganzen Tag, die meisten indes gehen nach ein paar Stunden, und dann fühle ich Mitleid mit denen, die Zurückbleiben. Manchmal frage ich mich, was meine Freunde empfinden, wenn ihre Lieben davonfahren, aber ich weiß, daß mich das nichts angeht. Und stelle keine Fragen, weil ich weiß, daß wir alle das Recht auf unsere Geheimnisse haben.
Aber bald will ich Ihnen einige der meinen erzählen.
Ich lege das Tagebuch und die Lupe auf den Tisch neben mir, spüre, daß mir die Knochen weh tun, und merke wieder,
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