Wie ein einziger Tag
von schwärmerischen Kritiken in Sprachen, die ich nicht verstehe. Meist jedoch lächle ich nur und sage, daß sie dieselbe geblieben ist, und dann wenden sie sich von mir ab, weil sie nicht wollen, daß ich ihre Gesichter sehe. Das erinnert sie an ihre eigene Sterblichkeit. So sitze ich bei ihnen und lese ihnen vor, um ihre Ängste zu lindem.
Sei ruhig - sei, wie du bist mit mir -Nicht ehe die Sonne dich verstößt, verstoße ich dich, Nicht ehe die Wasser sich weigern, zu glänzen für dich Und die Blätter rauschen für dich, weigern sich meine Worte, zu glänzen und zu rauschen für dich.
Und ich lese, damit sie erkennen, wer ich bin.
Ich wandre jede Nacht im Geist, Mich beugend mit offenen Augen über geschlossene Augen von Schläfern, Wandernd und irrend, mir selber verloren, verworren, widerspruchsvoll, Innehaltend, spähend, mich niederbeugend und weilend Wenn sie könnte, würde mich meine Frau auf meinen Abendgängen begleiten, denn die Poesie war eine ihrer vielen Lieben. Thomas, Whitman, Eliot, Shakespeare und König David, Verfasser der Psalmen. Wortjongleure. Sprachschöpfer. Rückblickend wundere ich mich über meine Leidenschaft für die Poesie, und manchmal bedauere ich sie heute sogar. Die Poesie bringt große Schönheit ins Leben, aber auch große Traurigkeit, und ich weiß nicht sicher, ob sie für jemanden meines Alters ein angemessener Ausgleich ist. Ein Mensch sollte, wenn er kann, andere Dinge genießen, sollte seine letzten Tage in der Sonne und nicht wie ich unter einer Leselampe verbringen.
Ich schlurfe zu ihr und setze mich in den Sessel neben ihrem Bett. Mein Rücken tut mir beim Sitzen weh. Ich denke zum hundertsten Mal daran, daß ich mir ein neues Sitzkissen besorgen muß. Ich ergreife ihre knochige, zerbrechliche Hand. Sie fühlt sich angenehm an. Sie reagiert mit einem Zucken, und langsam beginnt ihr Daumen über meine Finger zu streichen. Bevor sie das nicht tut, sage ich kein Wort, das habe ich gelernt. An den meisten Tagen sitze ich schweigend da, bis die Sonne versinkt, und an solchen Tagen erfahre ich nichts über sie.
Minuten vergehen, bis sie sich schließlich zu mir wendet. Sie weint. Ich lächle, lasse ihre Hand los und greife in meine Tasche. Ich ziehe mein Taschentuch hervor und wische ihre Tränen ab. Sie schaut mich dabei an, und ich frage mich, was sie wohl denkt.
»Das war eine schöne Geschichte.«
Leichter Regen beginnt zu fallen. Kleine Tropfen pochen sanft ans Fenster. Ich ergreife wieder ihre Hand. Das wird ein guter Tag werden, ein sehr guter, ein wunderbarer Tag. Ich lächle, muß einfach lächeln.
»Ja, das stimmt«, sage ich.
»Hast du das geschrieben?« fragt sie. Ihre Stimme ist wie ein Flüstern, wie ein leichter Wind, der durch die Blätter weht.
»Ja«, antworte ich.
Sie wendet sich zum Nachttisch. Dort stehen ihre Medikamente in einem kleinen Pappbecher. Meine ebenso. Kleine Pillen in Regenbogenfarben, damit wir nicht vergessen, sie einzunehmen. Sie bringen meine jetzt hierher, in ihr Zimmer, obwohl das eigentlich nicht erlaubt ist.
»Ich habe es schon einmal gehört, nicht wahr?«
»Ja«, sage ich wieder, wie jedesmal an solchen Tagen, Ich habe gelernt, geduldig zu sein.
Eindringlich betrachtet sie mein Gesicht. Ihre Augen sind grün wie Meereswellen.
»Es nimmt mir meine Angst.«
»Ich weiß.« Ich nicke langsam mit dem Kopf.
Sie wendet sich ab, und ich warte wieder. Sie läßt meine Hand los und greift nach dem Wasserglas, das auf ihrem Nachttisch steht. Sie trinkt einen Schluck.
»Ist es eine wahre Geschichte?« Sie richtet sich ein wenig auf und nimmt noch einen Schluck. Ihr Körper ist noch kräftig. »Ich meine, hast du diese Leute gekannt? «
»Ja«, sage ich wieder. Ich könnte mehr sagen, tue es aber meist nicht. Sie ist immer noch schön. Sie stellt die naheliegende Frage:
»Und welchen von beiden hat sie schließlich geheiratet?«
»Den, der der Richtige für sie war«, antworte ich.
»Und welcher war es?«
Ich lächle.
»Das wirst du erfahren«, sage ich ruhig. »Noch heute.«
Sie weiß nicht, was sie davon halten soll, fragt aber nicht weiter. Statt dessen wird sie nervös. Sie möchte es über eine andere Frage herausbekommen, ohne zu wissen, wie sie es anstellen soll. Dann beschließt sie, die Sache aufzuschieben, und greift nach einem der kleinen Pappbecher.
»Ist das meiner?«
»Nein, dieser hier«, sage ich und schiebe den anderen zu ihr hinüber. Ich kann ihn mit meinen Fingern nicht greifen. Sie nimmt ihn
Weitere Kostenlose Bücher