Wie ein einziger Tag
unser Leben, arbeiteten, malten, zogen Kinder groß, liebten einander. Ich sehe Fotos von Weihnachtsfesten, Familienausflügen, Schulabschlüssen und Hochzeiten. Ich sehe Enkelkinder und glückliche Gesichter. Ich sehe Fotos von uns mit immer grauerem Haar, immer tieferen Falten. Ein Leben, das so typisch scheint, und doch ungewöhnlich ist.
Wir konnten die Zukunft nicht voraussehen, aber wer kann das schon? Mein Leben heute ist nicht so, wie ich es erwartet hatte. Und was habe ich erwartet? Den Rückzug ins Private. Besuche bei den Enkelkindern, mehr Reisen vielleicht. Sie ist immer gern gereist. Ich stellte mir vor, ein Hobby zu pflegen, welches wußte ich nicht, aber vielleicht Schiffe bauen. In Flaschen. Klein, präzise - völlig undenkbar, jetzt mit meinen Händen. Aber ich bin nicht verbittert.
Wir dürfen unser Leben nicht nach unseren letzten Jahren beurteilen, das weiß ich nun, und ich denke, ich hätte wissen müssen, was uns bevorstand. Im Rückblick erscheint es offenkundig, aber am Anfang sah ich ihre Verwirrtheit als verständlich und nicht ungewöhnlich an. Sie vergaß, wohin sie ihre Schlüssel gelegt hatte, aber wem passiert das nicht? Sie vergaß den Namen eines Nachbarn, mit dem wir wenig Kontakt hatten. Manchmal schrieb sie die falsche Jahreszahl auf, wenn sie einen Scheck ausfüllte, doch auch das war für mich etwas, das sich mit gelegentlicher Zerstreutheit erklären ließ.
Erst als eindeutigere Dinge passierten, wurde ich stutzig. Ein Bügeleisen im Kühlschrank, Kleider in der Spülmaschine, Bücher im Herd. Und noch andere Dinge. Der Tag aber, als ich sie tränenüberströmt im Auto sitzen sah, weil sie den Heimweg nicht mehr wußte, war der erste, an dem ich wirklich Angst bekam.
Auch sie hatte Angst, denn als ich ans Autofenster klopfte, sah sie mich an und sagte: »0 Gott, was ist los mit mir? Hilf mir bitte.« Mein Herz krampfte sich zusammen, doch ich wagte nicht, an das Schlimmste zu denken.
Sechs Tage später begann der Arzt mit einer Reihe von Tests. Ich verstand sie nicht, verstehe sie heute noch nicht, wohl aus Angst, sie zu begreifen. Sie verbrachte fast eine Stunde bei Dr. Bamwell und ging am nächsten Tag wieder zu ihm. Dieser Tag war der längste in meinem Leben. Ich blätterte in Zeitschriften, ohne sie zu lesen, füllte Kreuzworträtsel aus, ohne zu denken. Schließlich rief er uns gemeinsam in sein Sprechzimmer und ließ uns Platz nehmen. Sie hielt zuversichtlich meinen Arm, aber ich weiß noch genau, wie meine Hände zitterten.
»Es tut mir sehr leid, was ich Ihnen jetzt sagen muß«, begann Dr. Barnwell, »aber es handelt sich bei Ihnen höchstwahrscheinlich um ein frühes Stadium von Alzheimer…«
Mir schwanden fast die Sinne, und das einzige, was ich wahrnahm, war die helle Deckenbeleuchtung über uns. Die Worte dröhnten in meinem Kopf:
»frühes Stadium von Alzheimer…«
Meine Welt drehte sich im Kreise, und ich spürte, wie Allie meinen Arm immer fester umklammerte. Sie flüsterte, wie zu sich selbst: »O Noah…, Noah…«
Und als ihre Tränen zu fließen begannen, hörte ich wieder die Worte.
»… Alzheimer…«
Es ist eine öde Krankheit, leer und leblos wie eine Wüste. Sie ist ein Dieb, stiehlt Herz, Seele und Gedächtnis. Ich wußte nicht, was ich sagen sollte, als sie an meiner Brust schluchzte, darum hielt ich sie nur umschlungen, wiegte sie stumm hin und her.
Der Arzt war ein guter Mann, und dies war schwer für ihn. Er war jünger als mein jüngster Sohn, und ich fühlte mein Alter in seiner Gegenwart. Mein Geist war verwirrt, meine Gefühle erschüttert, und das einzige, was ich denken konnte, war:
Kein Ertrinkender hat je erkannt Durch welchen Tropfen sein Atem schwand.
Worte eines klugen Dichters, und doch waren sie mir kein Trost. Ich wußte weder, was sie bedeuten, noch, warum sie mir eingefallen waren.
Wir wiegten uns weiter hin und her, und Allie, mein Traum, meine zeitlos Schöne, sagte, es tue ihr leid. Ich wußte, daß es nichts zu verzeihen gab, und ich flüsterte ihr ins Ohr. »Alles wird wieder gut.« Aber tief in meinem Innern hatte ich Angst. Ich war ausgehöhlt, ein Mann, der nichts zu bieten hatte, leer wie ein verrottetes Ofenrohr.
Ich erinnere mich nur an Bruchstücke von Dr. Bamwells Erklärungen.
»Es handelt sich um eine degenerative Unordnung im Gehirn, die Gedächtnis und Persönlichkeit beeinträchtigt… Es gibt weder Heilung noch Therapie… Man kann nicht Vorhersagen, wie rasch die Krankheit fortschreitet…
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