Wie ein einziger Tag
Das variiert von Patient zu Patient… Wir Ärzte wünschten, wir wüßten mehr… An manchen Tagen ist es besser, an anderen schlechter… Es verschlimmert sich im Laufe der Zeit… Es tut mir leid, daß ich derjenige bin, der Ihnen das mitteilen muß…«
Es tut mir leid…
Es tut mir leid…
Es tut mir leid…
Es tat jedem leid. Meine Kinder waren erschüttert, meine Freunde bangten um ihre eigene Gesundheit. Ich kann mich weder erinnern, wie wir die Arztpraxis verlassen haben, noch wie wir heimgefahren sind. Der Rest des Tages ist aus meinem Gedächtnis ausgelöscht; in diesem Punkt sind meine Frau und ich uns gleich.
Das ist nun vier Jahre her. Wir haben seither versucht, das Beste daraus zu machen, falls das überhaupt möglich ist. Allie organisierte alles, wie sie's immer getan hat. Sie traf die Vorkehrungen, um unser Haus aufzugeben und hierherzuziehen. Sie änderte ihr Testament und versiegelte es. Sie gab Anweisungen für die Beerdigung, und all das liegt in der untersten Schublade meines Schreibtisches. Ich habe bis heute nie daran gerührt. Und als sie damit fertig war, begann sie zu schreiben. Briefe an Freunde und die Kinder. Briefe an Geschwister, Vettern und Kusinen. Briefe an Nichten, Neffen und Nachbarn. Und einen Brief an mich.
Ich lese ihn gelegentlich, wenn mir danach zumute ist, und dann sehe ich Allie vor mir, wie sie an kalten Winterabenden mit einem Glas Wein am brennenden Kamin sitzt und die Briefe liest, die wir uns im Laufe der Zeit geschrieben haben. Sie hatte sie aufbewahrt, all die Jahre, und jetzt bewahre ich sie auf, weil ich ihr das versprechen mußte. Sie sagte, ich wüßte schon, was ich damit anfangen sollte. Da hatte sie recht; es macht mir Freude, ab und zu Passagen daraus zu lesen, genauso wie sie damals. Sie faszinieren mich, diese Briefe, denn wenn ich darin blättere, wird mir klar, daß Romantik und Leidenschaft in jedem Alter möglich sind. Wenn ich Allie heute sehe, weiß ich, daß ich sie nie mehr geliebt habe als heute, aber wenn ich die Briefe lese, wird mir klar, daß ich schon immer das gleiche für sie empfunden habe.
Das letzte Mal las ich die Briefe vor drei Abenden, als ich längst hätte schlafen sollen. Es war schon fast zwei Uhr, als ich zum Schreibtisch ging und den Stapel mit Briefen herausnahm, dick und vergilbt. Ich löste das Band - auch das schon fast ein halbes Jahrhundert alt - und fand die Briefe, die ihre Mutter ihr so lange vorenthalten hatte, und die aus späteren Zeiten. Fast ein ganzes Leben in Briefen, Briefe, die meine Liebe bekunden, Briefe aus meinem tiefsten Herzen. Lächelnd blätterte ich sie durch, wählte aus und entfaltete schließlich einen Brief anläßlich unseres ersten Hochzeitstages.
Ich las einen kurzen Abschnitt:
Wenn ich Dich jetzt sehe, wie Du Dich langsam bewegst mit dem neuen Leben, das in Dir heranwächst, dann hoffe ich, daß Du weißt, was Du mir bedeutest und wie einmalig schön dieses Jahr für mich gewesen ist. Nie war ein Mann seliger als ich, und ich liebe Dich von ganzem Herzen.
Ich legte den Brief beiseite und zog einen anderen aus dem Stapel, der an einem kalten Abend vor neununddreißig Jahren geschrieben worden war.
Als ich in der Weihnachtsvorstellung in der Schule neben Dir saß, während unsere jüngste Tochter völlig falsch sang, sah ich Dich von der Seite an und gewahrte einen Stolz in Deinem Gesicht, wie ihn nur der empfindet, der tief im Herzen fühlt, und ich wußte, daß kein Mann glücklicher sein konnte als ich.
Und als unser Sohn starb, derjenige, der seiner Mutter so ähnelte. Es war die schwerste Zeit, die wir je durchzustehen hatten, und die Worte klingen noch heute wahr:
In Zeiten von Kummer und Leid will ich Dich festhalten und wiegen, Deinen Kummer von Dir nehmen und ihn zu dem meinen machen. Wenn Du weinst, weine auch ich, wenn Dich etwas schmerzt, schmerzt es auch mich. Und gemeinsam werden wir versuchen, die Fluten von Tränen und Verzweiflung einzudämmen und den beschwerlichen Lebensweg/ortzusetzen.
Ich halte einen Augenblick inne und denke an ihn. Er war vier Jahre alt, fast noch ein Baby. Ich habe zwanzigmal länger gelebt als er, doch ich wäre, hätte man mich gefragt, bereit gewesen, mein Leben für das seine hinzugeben. Es ist schrecklich, sein eigenes Kind zu überleben, eine Tragödie, die ich niemandem wünsche.
Mit Mühe halte ich meine Tränen zurück, blättere, um mich abzulenken, in anderen Briefen und stoße auf einen zu unserem zwanzigsten
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