Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)
traurigen Blick haben wie die von deiner Mama. Ich hab nur gesagt, was ich gesehen habe. Und außerdem kann ich mir vorstellen, dass deine Mama schon lange genug gelebt hat, um mehr Grund zum Traurigsein zu haben als du. Meine Mama hat das auf jeden Fall.« Daraufhin schnappte Maze endlich eine Reaktion der anderen jungen Frau auf, einen flüchtigen Blick. War sie neugierig? Wütend?
»Ich meine, sie hat um einiges mehr Grund, traurig zu sein, als ich«, fuhr Maze fort. Sie dachte, Mary Elizabeth würde vielleicht fragen: »Was denn?« Doch sie musterte sie nur noch einen Moment länger und packte dann weiter ihre Kisten und Koffer aus.
Am nächsten Tag war es um sieben Uhr morgens bereits heiß, als sie zum Frühstück in den Speisesaal gingen. Ein voller Tag »Kennenlern-Aktivitäten« mit den anderen Studienanfängern veranlasste Maze beinahe, Vista anzurufen und zu betteln, sie möge sie abholen kommen. Nicht, dass sie das jemals wirklich getan hätte.
Maze blieb in Mary Elizabeths Nähe, wann immer es ging. Nach dem Mittagessen versuchte sie, sie zu überreden, die große Versammlung zum Thema »Gottes Wille für den Anfängerjahrgang« zu schwänzen und in die Stadt zu laufen, doch Mary Elizabeth sah sie nur an, als hätte sie vorgeschlagen, einen Mord zu begehen. Also schloss Maze während der endlosen, langweiligen Reden des Rektors und im Anschluss einer Horde von Dekanen die Augen und versetzte sich im Geiste an einen anderen Ort – zuerst in das Berea, wie es siebzig Jahre zuvor gewesen sein musste, als Georgia frisch dort angekommen war; dann ans Ufer des Shawnee Run Creek, des Bachs am Ende des Pfades hinter der Schwesternwerkstatt, an einem ersten warmen Frühlingstag. Drei verschiedene Leute, darunter Mary Elizabeth, stupsten Maze an, damit sie die Augen öffnete. Doch sie ignorierte sie alle.
Nach dem Abendessen zerrte sie Mary Elizabeth von dem geselligen Beisammensein mit der Fakultät fort zu einem Flügel, den sie in einem anderen Zimmer, einer Art Festsaal weiter den Flur hinunter, entdeckt hatte. »Spiel noch mal für mich«, bat sie.
Mary Elizabeth entwand Maze ihren Arm und starrte sie unverwandt an. »Du bist wirklich merkwürdig«, sagte sie.
Das tat ein bisschen weh, und Maze schoss durch den Kopf: Ich dachte, sie wäre anders, aber vielleicht ist sie doch wie die anderen. »Du bist nicht die Erste, die mir das sagt«, antwortete sie, während sie insgeheim nur dachte: Bitte . Bitte sei nicht wie die anderen. Für Maze war am zweiten Eingewöhnungstag am College schon klar, dass es in Berea genauso viele Menschen gab, die sie seltsam finden würden, wie in ihrer Schule in Harrodsburg. »Ich schätze mal, deshalb hast du mich auf dem Hals«, fügte sie noch hinzu.
Mary Elizabeth sah sie eine Zeitlang an, dann öffnete sie den Mund, als wollte sie etwas sagen, schloss ihn aber unvermittelt wieder. Sie drehte sich zum Klavier um, schloss die Augen und hob die Hände auf die Tasten. Einen Moment lang verharrte sie so, gerade lang genug, um Maze mitzuteilen, dass sie dieses Mal etwas von Debussy spielen würde, eines der Images , und Maze, die in der Schule ein wenig Französisch gelernt hatte, bemerkte, dass ihre Aussprache makellos war. Dann schlugen Mary Elizabeths Finger so leicht an wie zwei aus einem Daunenbett schwebende Federn, so dass Maze sich über den vollen, donnernden Klang wunderte, der aus den Tiefen des Klaviers ertönte.
Als sie geendet hatte, waren ihre Augen geschlossen, ihr Gesicht weicher, als Maze es bisher erlebt hatte. Es glitzerten Tränen in ihren Augen, als sie sie schließlich aufschlug und Maze ansah. Schüchtern lächelte sie und senkte den Blick.
»Debussy ist Franzose.« Sie zuckte die Achseln. »Aus irgendeinem Grund ist es anders, wenn ich die französischen Komponisten spiele. Ich meine, ich bin anders …« Noch einmal hob sie die Schultern. »Das ist schwer zu erklären.«
»So was hab ich noch nie gehört«, sagte Maze, überrascht, wie leise ihre Stimme war. Das hatte sie wirklich noch nie. Kopfschüttelnd blickte sie zu Boden. »Das war wohl dumm von mir gestern Abend, nach Kirchenmusik zu fragen.« Dann hob sie den Blick und sah Mary Elizabeth in die Augen. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll, wenn ich so was höre.«
Mary Elizabeth lächelte. »Na, das ist ja mal ganz was Neues«, sagte sie, und darauf mussten beide lachen. »Aber das ist schon in Ordnung. Ich spiele auch viel Kirchenmusik.« Und ehe Maze etwas entgegnen konnte, stimmte
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