Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)
allein in einer Ecke gelegen, während aller Augen und Ohren auf ihre sterbende Mutter gerichtet waren – Georginea selbst sauber und warm und versorgt, das immer, aber auch vollkommen allein.
Im Alter von drei Jahren, längst der Amme entwöhnt, die während ihres ersten Lebensjahres regelmäßig ins Haus ihrer Tante Lenora kam, traf sie bei ihrem Vater, Pfarrer der Second Presbyterian Church, in Cincinnati ein. Da bereits war sie ein ernstes und gehorsames Kind. Doch sie war auch, wenn sie sich von einer Kränkung provoziert fühlte, zu plötzlichen Wutausbrüchen fähig, die die Reihe von Kinderfrauen, von denen sie bis zu ihrem zwölften Lebensjahr betreut wurde, überforderte. Dagegen könne man nichts machen, erklärte Reverend Ward einer dieser Kinderfrauen nach der anderen. Wie er wiederholt auch Georginea selbst gegenüber äußerte, hatte sie den eisernen Willen ihres Großvaters Ephraim Ward geerbt – eines in dieser Gegend berühmten Abolitionisten, Freundes und zeitweiligen Kommilitonen von Charles Beecher und Theodore Weld am radikalen Lane Theological Seminary.
Mit zwölf hatte Georginea bereits in langen Stunden, die man sie allein zum Lesen im Arbeitszimmer ihres Vaters ließ, ein eigenes spezielles System von Zeichen und Symbolen entwickelt. Es wurde geformt aus Erfahrungen ihres Alltags, die sich in den Symbolen mischten: der Angst eines deutschen Kindermädchens vor Katzen; dem ihr im Arbeitszimmer ihres Vaters zur Verfügung stehenden Lesematerial – hauptsächlich theologische Abhandlungen, ergänzt von ein wenig Lyrik; dem gebeugten, schwarz gewandeten Rücken ihres Vaters, wenn er steif von seinem Haus zu seiner Kirche lief. Daraus wurde – irgendwie – der heiße, widerwärtig riechende Atem eines Tieres, der auf unergründliche Weise verbunden mit sexueller Verderbtheit war. Das langsame und gleichmäßige Ticken einer Uhr und das geräuschvolle Atmen eines Schlafenden standen für Blut und Scham und Furcht. Der Hut eines hageren Manns verwandelte sich, von einer Windböe erfasst, in eine Krähe, diese schmutzige, lachende Landplage. Aasfresser. Straßenrandspötter. Traumstörer.
Mit sechzehn packte sie ihre Tasche, ihre Bücher und ihr Symbolsystem und reiste zum Oberlin College. Die Tage der »verrückten Hosenträgerinnen«, der freimütigen Frauen, die Zigaretten rauchten und das Tagesgeschehen diskutierten wie Männer, mochten in Oberlin vorbei gewesen sein, aber es gab dort Freiheiten, die Georginea sich in den kampfergesättigten Schatten ihres Vaterhauses niemals hätte vorstellen können. Dennoch rechnete sie nicht damit, sich in einen jungen Schwarzen zu verlieben. Genau so war es aber am Ende ihres zweiten Jahres: Sie war verliebt in Tobias Jewell, karamellfarbene Haut und braune Augen, erfüllt von spirituellen und anderen Leidenschaften und Besitzer der reinsten Tenorstimme, die der Chor des College jemals gehabt hatte.
Zu ihrem Schrecken und ihrer tiefen Bestürzung verbot Georginea ihr Vater – der Sohn des Abolitionisten Ephraim Ward, in seinen Predigten entschiedener Befürworter der Förderung von Schwarzen –, ihn zu heiraten.
»Gottes Wille, Georginea, sieht nicht die körperliche Vermischung der Rassen vor«, erklärte er ihr eines Frühlingsmorgens in seinem Arbeitszimmer. Grünlich graue Gewitterwolken brauten sich vor dem Fenster zusammen, und sie wusste, sie täuschte sich nicht, wenn sie dachte, dass sein Mund sich mit einem Entsetzen, einem tiefen Abscheu verzog und dass etwas Bitteres und Bedrohliches dort im Raum zwischen ihnen schwebte, als er das sagte. Damit wurde sie aus Oberlin entfernt und in die Wälder von Kentucky geschickt, um an einer Lehranstalt zu unterrichten, von der der Reverend gehört hatte.
Sie war jünger als viele ihrer Studenten, und sie lebte gemeinsam mit den Mädchen und jungen Frauen im Wohnheim. Auf ihrem Bett lag am Tag ihrer Ankunft ein Exemplar des Studentenleitfadens. »Straffen Sie jedes Mal, wenn Sie vor die Tür gehen, die Schultern und holen Sie tief Luft. Machen Sie nach dem Aufstehen fünfhundert Turnübungen, um den Kreislauf in Gang zu bringen und jeden Muskel aufzuwecken. Trinken Sie in der Mitte des Vormittags, der Mitte des Nachmittags und vor dem Zubettgehen reichlich Wasser. Tragen Sie keine feine Kleidung, durch die Sie auffallen oder den Neid Ihrer Kommilitonen erregen könnten oder die Sie sich nicht leisten können.«
An anderer Stelle des Leitfadens wurden die Studenten vor dem Abbrennen von
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