Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)
nicht nötig, auf den Schutz der Dunkelheit zu warten. In meinem Unterricht werden wir nicht länger so tun, als respektierten wir die Gesetze eines dekadenten Landes.« Es war Byron, den sie zu Beginn der Unterrichtsstunde zitierte.
»Doch fort zum Tanz!«, stimmte sie mit brennenden Augen und geröteten Wangen an, als zwei männliche Fakultätsangehörige eintrafen, um sie aus dem Raum zu eskortieren. »Lasst nicht zu Ende sein die Lust!« Und während die beiden ihre Arme ergriffen und sie Richtung Flur zerrten, rief sie über die Schulter zurück: »Wacht bis zum hellen Morgenlicht, da Freud und Jugend über das Gewicht angstvoller Zeit wegschlüpft!« Sie konnte die offenen Münder und aufgerissenen Augen der aufgereihten Studenten hinter sich kaum erkennen, doch sie erhaschte einen flüchtigen Blick auf Winerips Tochter, die lächelte. Und so schwach und fiebrig und ängstlich Georginea sich in dem Moment auch fühlte, irgendetwas an diesem Lächeln entfesselte einen kalten, verwegenen Windhauch, und mit dem blendend weißen, warmen Sonnenlicht auf dem Gesicht trat Miss Georginea Ward durch die Tür und verließ ihre letzte Unterrichtsstunde am Berea College lächelnd, lachend. Wie eine Wahnsinnige, würden die Studenten ihres Kurses später sagen.
Pilger und Fremde
1961
A nfangs dachte Maze, das Berea College wäre vielleicht genauso, wie Schwester Georgia sich daran erinnerte – ein Ort zum Lesen und Lernen und Wandeln zwischen hohen Eichen. Massive Backsteinbauten voller Bücher und Musik mitten in einem Land ärmlicher Bauernhöfe und Tagelöhnerbaracken. Eine Art Insel in den ebenen Ausläufern von Kentuckys östlichen Hügeln, die noch nicht den Pferden und ihren wohlhabenden Besitzern überlassen worden war. Völlig anders als der Rest des Staates. Anfangs hatte sie das gedacht. Da war zum Beispiel ihre Zimmergenossin, Mary Elizabeth Cox – eine Negerin. Sie war schüchtern und kratzbürstig, beäugte Maze argwöhnisch, war offenbar nicht bereit, ihr zu trauen, ging vom Schlimmsten aus. Aber das störte Maze nicht. Reizbare, misstrauische Frauen waren so ungefähr die einzige Sorte, die sie bisher kannte. Schwester Georgia, die Frau, die von Mazes Mama Vista gepflegt wurde, war »ein Berg des Misstrauens«, wie Vista sagte. Da hatten sich ja die richtigen zwei gefunden, hätte Maze zu ihrer Mutter sagen können. Nun wohnten die beiden ohne sie drüben in Shakertown. Wer würde Vista und Georgia voreinander beschützen?, hatte Maze oft überlegt, seit sie eingewilligt hatte, sich im Herbst 1961 in Berea einzuschreiben. Das mussten die beiden nun selbst ausmachen. Zwei gegeneinander antretende Berge.
Der Großteil von Mazes erstem Tag in Berea war eigentlich absurd gewesen. Trostlos und absurd. Jeder – ihre Mama, Mary Elizabeths Eltern – war so nervös und höflich gewesen. Es wird besser sein, wenn sie weg sind, dachte Maze, und das war es. Mary Elizabeths Mama und Daddy fuhren als Erste, und nachdem Maze Vista endlich zu ihrem Wagen gebracht hatte, kam sie zurück in ihr gemeinsames Zimmer und begegnete dem unsicheren Blick ihrer Zimmergenossin mit einem Augenverdrehen, woraufhin sie beide erleichtert lachten. »Na, schon besser«, sagte Maze, und Mary Elizabeth lachte erneut.
Nicht, dass es am Anfang leicht war. Immer wieder ermahnte sich Maze: ›Du musst nicht jeden kleinen Gedanken laut aussprechen, den du im Kopf hast, Mädchen. Großer Gott!‹
Aber sie konnte sich nicht beherrschen. Als Mary Elizabeth an diesem Abend für sie etwas Klassisches, das sie nicht kannte, auf dem Klavier spielte, bat Maze sie um ein paar Kirchenlieder mit den Worten: »Du musst dich nicht so anstrengen, mich zu beeindrucken.« Dann später, zurück in ihrem Zimmer: »Deine Mama ist eine wunderschöne Frau. Den Namen Sarah liebe ich.« Und als sie darauf keine Entgegnung erhielt: »Du siehst ihr ähnlich, aber deine Augen sind nicht annähernd so traurig.«
Zu viel Information zu schnell aus dem Kopf und dem Herzen von Miss Maze Jansen, hörte sie da im Geiste. »Du musst ab und zu mal die Luft anhalten, Maze«, hatte sie mehr als einmal von ihrer Mama zu hören bekommen.
Doch an jenem Abend überraschte Mary Elizabeth sie, als sie sich schließlich zu ihr umwandte und antwortete. »Woher weißt du, dass ich nicht genauso traurig bin?«
Mehr brauchte Maze nicht. »Ich sage ja nicht, dass du nicht traurig bist. Das kann ich natürlich noch nicht wissen. Ich meinte nur, dass deine Augen nicht denselben
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