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Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)

Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Hinnefeld
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Schießpulver und dem Besitz von Schusswaffen gewarnt. Solche Gerätschaften waren für die Dauer des Studienjahrs beim Rektor der Anstalt zu hinterlegen. Georginea war in einem fremden Land.
    Und doch war es in mancher Hinsicht genau wie Oberlin. Ihre Lehrerkollegen waren gottesfürchtig, lernfreudig, still und respektvoll, doch mit Leib und Seele der Zukunft der Unionsstaaten verschrieben. Und 1890, in dem Jahr, als Georginea am Berea College – an den ausgefransten westlichen Ausläufern der Berge, irgendwo zwischen dem beschaulichen, sanft hügeligen Grasland, an das sie sich aus ihrer Kindheit erinnerte, und einer schrofferen, gebirgigen Welt im Osten – ankam, war dort mehr als die Hälfte der dreihundertfünfzig eingeschriebenen Studenten schwarz. Sie waren die Söhne und in einigen Fällen die Töchter befreiter Sklaven, ehemaliger Soldaten und Überlebender des Krieges, und sie lernten und sangen und lebten unter weißen Studenten aus den Bergen.
    Die raue Pionieratmosphäre der Stadt und die neue Umgebung des College – so ganz anders als die Welt, die sie aus dem herrschaftlichen Haus ihres Vaters in Cincinnati oder den luxuriösen Räumlichkeiten ihrer Tante Lenora in Lexington kannte – gefielen Georginea. Das Leben im Wohnheim sagte ihr ebenfalls zu. Die karge Schlichtheit ihres Bettes mit der dünnen Matratze und der groben Wäsche, ihr fast leerer Schrank, Schreibtisch und Stuhl gaben ihr das Gefühl, leicht wie eine Feder zu sein. In diesem sauberen, weißen, luftigen Raum vergaß sie, zumindest eine Zeitlang, die drückenden Nächte und Morgen des vorangegangenen Sommers, die furchtbaren Kopfschmerzen, unter denen sie im Haus ihres Vaters gelitten hatte, die Teilnahmslosigkeit ihrer letzten Tage dort.
    Unten am Berg, am Rande des Städtchens, knallten oft Schüsse. Böse Schlägereien unter Betrunkenen kamen häufig vor, und manchmal wurden Männer – sowohl schwarze als auch weiße – getötet. Nicht weit außerhalb von Berea, entlang der Scaffold Cane Road, erfroren Kinder beinahe im Winter. Solche Dinge erfuhr Georginea von Lottie Johnson, dem langsamen, stämmigen Mädchen, das im Damenwohnheim die Post verteilte und das die schmalen, rot geränderten Augen weit aufriss, wenn es eine blutrünstige Geschichte nach der anderen erzählte und Georginea zwang, einem weiteren geflüsterten Bericht vom neuesten Klatsch und Tratsch über »die da unten« zu lauschen, ehe es die Morgenpost herausrückte.
    Zwar war Kentucky immer noch ein Pionierstaat, die Heimat Gesetzloser und Abtrünniger, und die Bewohner der umliegenden Berge und Täler bewachten ihre Hütten mit Gewehren am Bett, doch davon wusste Georginea nichts. Von Zeit zu Zeit zogen Bürgerwehren durch die Hauptstraße, Georginea aber nahm sie kaum wahr, wenn sie sich in Coyles Laden ein paar Meter einfachen Wollstoff abmessen ließ oder an einem Samstagmorgen den Pferdewagen auf der matschigen Straße auswich. Aller Wahrscheinlichkeit nach hätte sie überhaupt nichts vom Leben jenseits der Collegemauern mitbekommen (die örtliche Zeitung las sie nur selten, da sie sich mehr und mehr von der Welt außerhalb ihres eigenen Kopfes losgelöst fühlte), wäre sie nicht gelegentlich von einigen ihrer ergebenen Studentinnen aus ihrem Zimmer gezogen worden.
    Diese jungen Frauen neckten sie auch gern mit dem unübersehbaren Interesse eines anderen jungen Lehrers, Lowell Wesley, der aus den Bergen von Virginia stammte. Er unterrichtete Mathematik und war kurz nach Georginea, im Herbst 1890, in Berea eingetroffen. Er hatte ein, wie sie fand, geziertes Gehabe und einen lächerlichen Akzent, aber anfangs versuchte sie, seine Zuneigung zu erwidern. Bis er sie eines dunklen Abends nach einem Spaziergang über das Collegegelände grob an die schattige Rückmauer des Wohnheims schubste und nasse Lippen und Schnurrbart auf ihren Mund presste, während seine Zunge gegen ihre Zähne drückte. Sie stieß ihn weg und hastete zur Hintertür des Gebäudes, zutiefst erschrocken über die Erkenntnis, dass ein Teil von ihr, ganz kurz nur, seine Leidenschaft hatte erwidern wollen. Seine Zunge durch ihre zusammengebissenen Zähne hereinlassen wollte.
    Als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel, hörte sie das Aufjaulen einer Katze. Danach mied sie Lowell Wesley, der sie nie wieder zu einem Spaziergang nach dem Abendessen einlud.
    Als Georginea für die Woche zwischen Weihnachten und Neujahr nach Cincinnati fuhr, fühlte sie sich von einer dumpfen, namenlosen

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