Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)
widerspenstigen Zopf flocht, damit die anderen Mädchen auf dem Flur nicht immer nach ihren Locken griffen. Doch dann hörte Mary Elizabeth, was Ferne gerade sagte, während Dare neben ihr zustimmend nickte.
»Mein Daddy hat schon vorab dafür gesorgt, dass ich nicht mit einer von denen das Zimmer teilen muss. Du müsstest nur fragen, dann müssten sie dich bestimmt wechseln lassen.«
Ferne stand mit dem Rücken zu Mary Elizabeth, und Maze, die versonnen an der Wand lehnte, bemerkte ihre Zimmergenossin lange, bevor Ferne zu Ende gesprochen hatte und sich umdrehte, um Mazes Blick zu folgen. Maze blieb stumm und beobachtete, wie Mary Elizabeth langsam auf sie zukam. Als sie schließlich auf der Höhe der drei anderen angekommen war, sagte Maze zu ihr: »Man kann schwer schlafen bei dem Krach, den manche Leute machen, stimmt’s, Mary Elizabeth?« Dann schüttelte sie den Kopf, lachte ein hohles kurzes Lachen und folgte ihrer Mitbewohnerin in ihr gemeinsames Zimmer, während Ferne und Dare auf den Boden starrten und sich in ihr eigenes zurückschlichen.
Visitor
1938–1943
V ista Combs, Mazes Mutter, hatte noch in einem Alter, in dem Mädchen eigentlich längst über solche Sachen hinaus sein sollten, aufgeschürfte Knie und blaue Flecke auf den Schienbeinen. Das war die einzige Beobachtung von Vistas Mutter über ihre fünfzehnjährige Tochter bei ihrem letzten Besuch zu Hause in Torchlight, Kentucky, 1938.
»Was macht meine Mama in Memphis?«, hatte Vista ihre Großmutter einmal als Kind gefragt, und ihre Grandma, keine Frau vieler Worte, hatte nur gesagt: »Tja, ich schätze mal, das wollen wir gar nicht wissen.« Und das war das letzte Mal, dass Vista fragte.
Ihre Mutter tauchte alle paar Jahre auf eine Mahlzeit und eine Übernachtung und um sich Geld zu leihen auf, die Haare schwarz getönt und dauergewellt und die Lippen rubinrot geschminkt. Sie war der einzige Mensch, der Vista je mit ihrem Taufnamen ansprach. »Und wie geht’s der kleinen Visitor?«, gurrte sie noch auf der Treppe vor dem Haus und strich geistesabwesend durch Vistas dunkle Locken. Dann ging sie ins Haus, um ihre eigene Mutter zu suchen, und Vista spielte weiter mit ihrer Stoffpuppe oder las zum wiederholten Male eines der Bücher von Elsie Dinsmore, die Miss Drury ihr geliehen hatte. Dass dieser Gast ihre Mutter war, schien kaum in ihr Bewusstsein zu dringen.
Doch ihre Mutter lachte mit Grandma Marthie. Sie hatten den gleichen Sinn für Humor, wenn auch sonst keine Gemeinsamkeiten. Jahre später sollte Vista erfahren, dass die beiden ihren Namen damals mit einem Lächeln und einem Augenzwinkern zusammen ausgesucht hatten. Visitor – »Besucher« – Lane Combs – benannt sowohl nach dem längst verschwundenen männlichen Besucher, der auf demselben Weg gegangen, wie er gekommen war, über den Feldweg hinter dem Haus, als auch nach einem anderen Besucher, dem monatlichen, der sich nicht eingestellt hatte, nachdem der erste fort war. Mit der Zeit, und auf Drängen der Lehrerin Miss Drury, hatte Grandma den Namen zu Vista verkürzt. Doch bei den seltenen Besuchen ihrer Mutter wurde sie stets daran erinnert: »Und wie geht’s der kleinen Visitor?« Und Vista dachte dann immer, wenn sie es auch nie sagte: ›So wie ich das sehe, bist du der einzige Besucher hier.‹
Als sie erfuhren, dass ihre Mutter von einer Straßenbahn überfahren worden und gestorben war, nicht lange nach jenem Besuch, als Vista fünfzehn war, vergoss Vista keine Tränen, und falls Grandma trauerte, sah Vista nie etwas davon.
Das einzig wirklich Traurige in ihrem Leben in jenem langen, heißen Sommer war, dass Miss Drury nicht mehr da war. Sie hatte endlich ihre eigene Ausbildung drüben in Berea beendet, einen anderen Lehrer kennengelernt und geheiratet und war mit ihm nach Norden gezogen, nach Ohio. Norden, dorthin ging offenbar jeder, der es schaffte, wegen der Arbeit in den Fabriken und wegen der Häuser mit nagelneuen Küchen, eine Million Meilen von den öden Tälern Kentuckys entfernt und dem Einflussbereich von Kohle- oder Holzwirtschaft entzogen.
Selbst als Kind hatte Vista verstanden, woher die Farbe des Bösen kam: Kohle. Das Böse war schwarz wie die Kohle, die ihren Grandpa umgebracht hatte, bevor sie ihn auch nur kennenlernen konnte, und die ihre Mutter vor all den breitschultrigen, Schwärze atmenden Männern nach Memphis hatte flüchten lassen. Doch wenn das alles sie traurig machte, dachte Vista immer an Miss Drury und ihr nagelneues Häuschen in
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