Wie ein Haus aus Karten
Rücken. Das Versprechen seinem Vater gegenüber ist längst vergessen.
Josef ist getrieben von der Vorstellung, dass man ohne Beziehungen »in dieser Welt ein Dreck« ist und »wer sie nicht nutzt: … ein Oberdepp«. Mein Pflegevater ist kein Oberdepp, und er erfüllt auch ohne Studium wichtige Voraussetzungen für eine berufliche wie gesellschaftliche Karriere: Er verfügt über ein gepflegtes Äußeres, gute Manieren und ein weltmännisches Auftreten. Seine Garderobe ist modisch elegant, und er liebt schnelle Fahrzeuge, auch wenn er sich zunächst auf den Horch seiner Mutter beschränken muss, bevor sie ihrem Ältesten ein zweizylindriges 750er-BMW-Motorrad kauft. Eine Steigerung stellt das durch Vermittlung seines zukünftigen Schwiegervaters erworbene Sechs-Zylinder-Audi-Cabriolet mit weißer Karosserie, schwarzem Schlechtwetterdeck und roten Polstern aus Safranleder dar.
Alles, was mit Reichtum, Ansehen und Einfluss zu tun hat, übt auf Josef von früh an eine unwiderstehliche Faszination aus. Eine Einladung bei Rothschilds, die seine Mutter bewerkstelligt, lässt ihn vor Ehrfurcht erschauern. Nach diesem Besuch ist Rothschild sein großes Vorbild, dessen Platz kurz darauf Rockefeller einnimmt, wenn Josef auch seine mangelnden Englischkenntnisse daran hindern, den Sprung über den Großen Teich zu wagen. Solche Abende im Kreise angesehener Persönlichkeiten sind für Josef erste Fingerübungen in Sachen Karriereplanung.
Dass es Klassenunterschiede gibt, wird Josef bereits als Junge bewusst, als er zum ersten Mal reitet. Josef ist stolz auf seine, wie er sie nennt, »elitäre« Reitkleidung, und er betrachtet das Reiten als Vorrecht der sozial Privilegierten, was natürlich auch zu Gegenreaktionen führt. Sein Resümee: »Hoch zu Ross machte man sich zur Zielscheibe aufgestauten Klassenhasses, zum Symbol des gesellschaftlichen Unterschieds.« Wenn schon gesellschaftlicher Unterschied, dann möchte er ihn von oben erleben und nicht von unten.
Der Reitsport ist neben seiner beruflichen Karriere seine zweite große Passion. Pferde gehören von klein auf zu seiner Welt. Als er im Reitstall seines Vaters zum ersten Mal auf ein Pferd gesetzt wird, kann er noch nicht laufen. Später reißt er sich darum, die Kaltblüter, die die Kohlenfuhrwerke ziehen, zu füttern und zu versorgen. Sein Reitlehrer bringt ihm nicht nur die Technik bei, die man für diesen Sport braucht, sondern auch die Haltung. Vater Handke, wie Josef ihn nennt, fasst sie in einem Wort zusammen: Disziplin. Und noch etwas kommt schon bald hinzu: Reiten ist für Josef kein Selbstzweck, Reiten bedeutet für ihn sich messen und siegen. Auch die sportliche Passion meines Pflegevaters hat ihre Wurzel in seinem Drang, der Beste zu sein, getreu dem von ihm nicht in Frage gestellten Satz seines Turnlehrers: »Wenn du im Sport etwas leistest, wirst du es auch im Leben zu etwas bringen.«
Annemarie Brückner, Josefs spätere Frau, die als kleines Mädchen von ihren Freunden liebevoll »Bröckele« genannt wird und später Annemi und Ami, soll es nach dem Willen ihrer ambitionierten Mutter im Leben ebenfalls zu etwas bringen. Großmutter Brückner mit dem schönen Vornamen Agnes lässt sich nach der Geburt der zweiten Tochter die Brust, die ihr zu groß und unförmig erscheint, operieren. Für die damalige Zeit ein ebenso seltenes wie mutiges Unterfangen. Ihren zart und sensibel wirkenden Ehemann, Richard, zwingt sie zwar nicht, bei dieser Operation dabei zu sein, wohl aber bei der Geburt der zweiten Tochter Annemarie. Das hat zur Folge – und ist von Agnes wohl auch so beabsichtigt –, dass sie keine weiteren Kinder mehr bekommen muss. Großvater Brückner will seine Frau nicht noch einmal so leiden sehen. Nach zwei unter Schmerzen geborenen Töchtern, für die ihr Mann ihr ewig dankbar ist, ist das Thema Nachwuchs zwischen ihnen abgeschlossen.
Auf einer vergilbten Fotografie, die ich unter alten Unterlagen finde, als alle darauf abgebildeten Personen bereits tot sind, sitzt Großmutter Brückner, eine stattliche und elegante Frau in den besten Jahren, auf einem Empiresofa. Annemi, etwa fünf Jahre alt, mit kurzgeschnittenen glatten Haaren und großen, ernsten Augen, hat ihren Arm auf das Knie der Mutter gestützt. Liselotte, die Ältere, mit geflochtenen Schnecken über den Ohren, kniet auf dem Sofa, ebenfalls an ihre Mutter gelehnt. Der Kontakt, den die Mädchen, beide in Rüschenkleidern und mit übergroßen Satinschleifen im Haar, zu ihrer Mutter
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