Wie ein Haus aus Karten
noch erinnern, vor allem an die pelzigen Nüsse, die ich als Kind aufgesammelt habe.
Elf Monate nach Mockels Geburt folgt meine Schwester Maria-Barbara, Uschi genannt. Im schmiedeeisernen Pavillon am Ende des Gartens setzen an einem warmen Sommerabend im August 1932 bei Mady die Wehen ein. Als endlich die Hebamme eintrifft, ist meine Schwester bereits auf der Welt. Inzwischen fast achtzig Jahre alt, hat sie bis heute den Satz nicht vergessen, den unsere Mutter gesagt haben soll, als sie feststellt, dass sie wieder schwanger ist: »Wenn’s ein Mädchen wird, ertränke ich es im Main.« Vielleicht hat sie das gesagt. Vielleicht nicht. Sie ist eine impulsive Frau, sie ist jung, sie möchte immer mit ihrem Mann zusammen sein, und sie fühlt sich einem zweiten Kind so kurz nach dem ersten nicht gewachsen. In einem späteren Gespräch ist meine Schwester davon überzeugt, dass sich der Vater in dieser Weise geäußert hat. Von wem dieser unbedachte Ausspruch letztlich stammt und ob er überhaupt gefallen ist, ändert nichts an der Tatsache, dass meine Eltern zu diesem Zeitpunkt kein weiteres Kind wollen. Die Lösung kommt in Gestalt des Kindermädchens Änne, die für einige Jahre bei den beiden Großen die Mutterstelle einnimmt. Ich bin froh, dass meine Eltern die ersten Jahre ihrer Ehe in vollen Zügen genießen können. Viel Zeit sollte ihnen nicht bleiben.
Ich blättere in einem Fotoalbum meiner Mutter aus diesen Jahren. Es erweckt den Eindruck, dass das Leben der Jungvermählten nur aus Festen bestanden hat. Die Abbildungen zeigen Mady in unterschiedlichen, immer aber aufwendigen Faschingskostümen. Da sie auf den Fotos meist ohne ihren Mann zu sehen ist, vermute ich, dass mein Vater hinter der Kamera steht, um seine strahlende, lebenslustige Frau mit den vielen Gesichtern und Verkleidungen einzufangen. In einer einzigen Faschingszeit schlüpft Mady in vier verschiedene Rollen. Sie ist das verspielte Kammerkätzchen mit weißer Schürze und Staubwedel in der Hand, die Femme fatale in Netzstrümpfen und kurzem schwarzem Satinrock, eine Zigarettenspitze im Mundwinkel, die folkloristische Russin im bunt gestreiften, schwingenden Rock mit Bändern im Haar und schließlich die feurige Spanierin mit weit geöffnetem Fächer. Die Faschingskostüme lässt Großmutter Neckermann wie Jahrzehnte später auch für mich bei ihrer Schneiderin anfertigen, die zweimal in der Woche zu ihr nach Hause kommt.
Aus heutiger Sicht würde man meine Eltern als Glamourpaar bezeichnen, aber auch damals sorgen sie bei ihren gesellschaftlichen Auftritten für Gesprächsstoff: Meine Mutter im weißen Hermelin und mit tiefem Dekolleté, das ihre noch immer mädchenhafte Brust dekorativ zur Geltung bringt, Hans in Cut und weißen Handschuhen. Dr. Burau, ein Geschäftspartner und Freund meines Vaters, der nach dessen Tod in die Firma meines Pflegevaters Josef Neckermann eintritt, berichtet von einem Ball, bei dem meine Eltern wieder einmal, diesmal allerdings ungewollt, alle Blicke auf sich ziehen. Es beginnt zu regnen, als das Paar in einer schwarzen Limousine vorfährt. Mady, die um ihre hochgesteckten Locken fürchtet, greift, ohne lange zu überlegen, nach dem Saum ihres Abendkleides und stülpt sich den Rock über den Kopf, gerade in dem Augenblick, als sie die Treppe zum Festspielhaus emporschreitet. Dass die nach ihr kommenden Gäste, darunter Dr. Burau, nicht nur ihre überlangen Beine bewundern können, sondern auch die weißen Strumpfhalter und das passende Spitzenhöschen, scheint Mady nicht zu irritieren. Unter dem Baldachin des Hauptportals angelangt, rückt sie ihr Kleid zurecht, dreht sich lächelnd um und zieht die Schultern wie zur Entschuldigung ein wenig hoch. Die Umstehenden lachen und klatschen, auch mein Vater. Er ist stolz auf seine Frau. Darauf, dass sie sich lächelnd und souverän über unpraktische Anstandsregeln hinwegsetzt, darauf, dass sie schön ist und sich für ihn immer noch schöner macht.
Mein Vater liebt es, mit seiner lebenslustigen, eleganten Frau private Feste und große Bälle zu besuchen, doch die Tage und später auch die Nächte sind neben der Arbeit in der Kanzlei zunehmend von seinen politischen Aktivitäten angefüllt. Dr. Hans Lang ist Mitglied der Bayerischen Volkspartei und der Bayernwacht, der militanten Schutzgruppe dieser Partei, die, wie es im Nachruf auf meinen Vater heißt, »1933 nur durch das Eingreifen einflussreicher Persönlichkeiten daran gehindert wird, dem Nationalsozialisten in
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