Wie ein Haus aus Karten
suchen, wird von dieser nicht erwidert. Ihr Blick ist auf die Kamera gerichtet.
Die Erziehung der standesbewussten Mutter zielt nicht auf eine eigenständige Berufslaufbahn der Töchter, sondern darauf, dass diese ihre zukünftige Rolle an der Seite eines erfolgreichen Mannes zur Zufriedenheit aller, vor allem des Ehemanns, erfüllen. Liselotte, Lilo genannt, erfüllt nicht die Hoffnungen ihrer Mutter. Mit Annemi hat diese mehr Glück. Sie ist hübsch, musisch begabt, nimmt Klavierunterricht und hat eine klare, volle Altstimme. Das zierliche, selbstbewusste Mädchen lernt Steppen, und auch da zeigt sie Talent. Nach ihren ersten Auftritten in der Tanzschule, mit Zylinder, Stöckchen und Steppschuhen, sagt man der Kleinen eine große Karriere voraus. Ihr einziger Makel ist ein Asthmaleiden, gegen das sie sich mit Hilfe eines Inhaliergeräts, das sie noch in den ersten Jahrzehnten ihrer Ehe immer bei sich trägt, tapfer zu wehren versucht.
Den Vater der ungleichen Schwestern, Richard Brückner, erlebe ich als einen sanften Mann. Da ich mich an meinen Vater nicht erinnern kann und mein Pflegevater selten zu Hause ist, ist er einer der wenigen Männer meiner Kindheit und frühen Jugend. In meiner Vorstellung sehe ich ihn eher Rilke-Gedichte rezitieren und Hesse lesen als Mein Kampf, was er aber tatsächlich mit Begeisterung tut. Großvater Brückner ist Hitleranhänger, worüber in der Familie nie gesprochen wird. Und er ist überzeugt: »Jetzt geht es wieder aufwärts.« Als es mit seinem Autohandel vorübergehend abwärtsgeht, lässt seine Begeisterung für die NSDAP unvermittelt nach. Es ist weniger politische Einsicht als persönliche Enttäuschung, die schließlich zum Gesinnungswandel führt.
Als Josef Annemi im Sommer 1928 im Hügelbad bei Würzburg zum ersten Mal begegnet, lässt ihm dieses Mädchen, wie mein Pflegevater gern und oft erzählt, keine Ruhe mehr. Und er erinnert sich: »Das Erste, was mir ins Auge fiel, war ihr Badeanzug. Eng. Rot. Ausgeschnitten. Den halben Schenkel gab er frei.« Aber auch der Rest ist ansehnlich, wie Josef bald darauf registriert: »Blonder Pagenkopf, tolle Figur, schlank, dabei doch sportlich-kräftig«. Es sind weniger ihre musischen Begabungen als ihre sportlichen Talente, die Josef beeindrucken.« Sie schwimmt mit Ausdauer, spielt begeistert Tennis und bewegt sich nicht nur auf der Eisbahn geschickt und graziös. Annemi ist bei der ersten Begegnung, die, wie bei meinen Eltern, über ihr weiteres Leben entscheiden wird, dreizehn Jahre alt. Sie nennt ihren neuen Freund spontan Necko, ein Kosename, den er zeit seines Lebens behalten wird.
Necko hat sich Hals über Kopf verliebt, und er gesteht es seiner Angebeteten. Diese jedoch ist zunächst zurückhaltend, wie es sich für eine wohlerzogene höhere Tochter gehört. Sie möchte, dass Josef um sie kämpft, und er weiß auch schon bald, wie. Um so oft und so unverfänglich wie möglich mit ihr zusammen sein zu können, schlägt er Annemi vor, ihr Reitstunden zu geben. Das hat noch keiner ihrer Verehrer getan. Sie willigt ein, so wie später auch in die heimliche Verlobung.
Eine leidenschaftliche Liebe, wie Josef seine damaligen Gefühle beschreibt, hat Annemi nicht gleich erfasst. Sie lässt sich weiter umwerben, aber auch sie ahnt, dass es ernst wird. Am Tag ihrer Konfirmation erklärt ihr Necko, dass er sie heiraten werde. Als ihre Eltern, Richard und Agnes Brückner, die Ernsthaftigkeit der Beziehung zu erfassen beginnen, greifen sie zu dem gleichen Mittel, das meine Großmutter Neckermann bei ihrer Tochter Mady angewendet hat. Auch Annemi kommt erst einmal ins Internat. Necko hat es nicht leicht, bei der zukünftigen Schwiegermutter einen standesgemäßen Eindruck zu machen. Für mütterliche Skepsis ist es allerdings zu spät. Ihr Mann Richard hat, nachdem Josef dessen Bedingung bezüglich der finanziellen Sicherung der Tochter nachgekommen ist, bereits seinen Segen gegeben. Er besteht auf einer Beteiligung seines Schwiegersohns an der Kohlengroßhandlung J. C. Neckermann. Meine Großmutter hat damit kein Problem. Kummer bereitet ihr dagegen, dass Annemi protestantisch und zudem nicht willens ist zu konvertieren. Die junge Braut erklärt sich dennoch bereit, mit ihrer zukünftigen Schwiegermutter und ihrem Verlobten zu einer Privataudienz bei Papst Pius XI. nach Rom zu fahren.
Neckos Firmpate Pater Aquilin, Pönitentiar beim Vatikan, der Jahrzehnte später noch einmal seinen Draht zu Gottes erstem Diener zum Wohle der
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