Wie ein Haus aus Karten
Schlimmes gewesen sein muss.
Die Wunde, die das Vergessen nach dem Tod meiner Eltern und meines Bruders hat vernarben lassen, bricht wieder auf. Die großen Abschiede meines Lebens treffen mich immer unvorbereitet: der Tod meiner Eltern und meines Bruders, das Ende meiner ersten großen Liebe, der Tod meines Freundes Hermann, die Trennung von meiner Großmutter und später deren Tod und die zeitweilige Trennung von meinem Sohn Matthias, der bei seinem Vater aufwächst. Diese Abschiede sind für mich wie Überfälle im Dunkeln.
Die Beerdigung meiner Großmutter Neckermann wird zum Gericht über mich. Meine Pflegeeltern befinden mich für schuldig. Die Tatsache, dass ich durch eine unglückliche Verkettung der Umstände nicht erreichbar bin, als meine Großmutter stirbt, weil ich mit einem Mann unterwegs bin, den sie nicht einmal kennen, werten meine Pflegeeltern als unverzeihliches Zeichen meiner Unmoral. Demonstrativ wenden sie sich von mir ab. Da sie es tun, tun es auch alle anderen Familienmitglieder, die zur Trauerfeier gekommen sind. Niemand kommt auf mich zu, niemand spricht mit mir, niemand nimmt mich in den Arm, tröstet mich.
Es fällt noch immer schwer, mir diese Situation zu vergegenwärtigen, die Härte, die Lieblosigkeit, die Unerbittlichkeit, obwohl alle wissen, was meine Großmutter und ich einander bedeutet haben. Vielleicht hat es Necko erleichtert, seinem Schmerz über den Tod seiner Mutsch in Angriffen gegen mich Luft zu machen. Er hat sie sehr geliebt.
Ich stehe in der Leichenhalle am offenen Sarg meiner Großmutter. Ihr immer noch volles, welliges Haar ist straff nach hinten gekämmt. Die dichten Augenbrauen sind zum ersten Mal, seit ich sie kenne, rasiert, ihr Mund ist rot geschminkt, obwohl sie zu ihren Lebzeiten nie einen Lippenstift benutzt hat, rosa Make-up glänzt auf ihren Wangen, das restliche Gesicht ist weiß gepudert. Schwester Margot, rund, rosa und gelegentlich auch rabiat, die Pflegerin meiner Großmutter, hat sie im Tod bis zur Unkenntlichkeit entstellt.
Schwester Margot will mit diesem Meisterwerk ihre eigentliche Chefin Frau Neckermann beeindrucken. Annemi hat sie vor Jahren ausgesucht und eingestellt, ohne sich zuvor mit meiner Großmutter abzusprechen. Mit sicherem Instinkt für die Erwartungen ihrer Vorgesetzten weiß Schwester Margot, dass die Schminkkunst, die sie meiner Großmutter angedeihen lässt, das Lob meiner Pflegemutter findet. Es ist der Anblick einer stattlichen, gepflegten, gutsituierten, angesehenen alten Dame der Gesellschaft mit damals modisch angesagtem Violettschimmer im Haar, der Annemis Vorstellung von der Würde des Alters entspricht. Erst allmählich finde ich meine Großmutter unter den Puderschichten wieder, bis sie mir so nah ist, wie sie es jeden Augenblick meines Lebens war.
Schwester Margot sollte ich Jahre später noch einmal in Frankfurt begegnen, als ich ein Praktikum bei der »Frankfurter Neuen Presse« mache. Sie hat um ein Gespräch mit dem Chefredakteur der Lokalredaktion Richard Kirn gebeten. Erst verblüfft sie den Ahnungslosen, indem sie ihm, wie allen, die sie zum ersten Mal trifft, unaufgefordert eine ärztliche Bescheinigung ihrer Jungfräulichkeit vorlegt, dann behauptet sie, dass Frau Neckermann sie bedrohe. Der für seine mutigen Artikel bekannte Journalist soll ihr helfen, indem er über die Machenschaften der stadtbekannten Familie Neckermann einen Artikel schreibt. Der Zufall will es, dass ich gerade in diesem Augenblick in das Büro meines Chefs komme, ohne zu ahnen, wer bei ihm ist. Als sie mich erkennt, glaubt sie endgültig an eine Verschwörung und stürzt wortlos aus der Redaktion. Ich habe Schwester Margot nicht wiedergesehen.
Auf der Beerdigung meiner Großmutter empfinde ich die Nähe der geliebten Toten ebenso intensiv wie die Ablehnung der Lebenden. Ich habe nur den einen Wunsch, der mich in diesem Moment tröstet: kurz bevor sich der schwere Eichendeckel schließt, unbemerkt zu meiner Großmutter in den Sarg zu steigen und in ihrem Arm einzuschlafen.
Die Wirklichkeit hält kein so friedliches Bild für mich bereit. Nach der Trauerfeier wird mir von meiner Schwester Uschi mitgeteilt, dass mich meine Pflegeeltern aus der Familie ausstoßen wollen. Selber sprechen sie nicht mit mir. Wieder wird, wie damals beim Tod meiner Eltern und meines Bruders, nach einer Beerdigung der Familienrat einberufen. Meine Schwester Uschi und ihr damaliger Mann bieten sich an, mich erst einmal im Auto mit nach Frankfurt zu nehmen.
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