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Wie ein Haus aus Karten

Wie ein Haus aus Karten

Titel: Wie ein Haus aus Karten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristin Feireiss
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Traum von einer gemeinsamen Reise in ein fernes Land, die wir nie zusammen gemacht haben. Nicht nach Afrika und auch sonst nirgendwohin.
    2. Nachtrag: Der Anwalt der Firma Neckermann schickt eine beglaubigte Abschrift meines Abiturzeugnisses an meinen Pflegevater und bemerkt in einem beigefügten Schreiben: »Sehr verehrter Herr Neckermann, Sie sind sicher stolz auf die herausragenden Leistungen Ihrer Pflegetochter Tini. Sie wird es sicher weit im Leben bringen.« Der Brief ist für meinen Pflegevater der Anlass, mir zum Abitur zu gratulieren.

Dazwischen 8
    Ich schaffe das nicht, ich sage ab, dachte sie, als sie auf das Fieberthermometer sah, dessen Quecksilbersäule auf über 40 Grad angestiegen war. Ihr Körper wurde abwechselnd von Schüttelfrost und Hitzewallungen heimgesucht. Sie zog die Bettdecke bis unters Kinn und vergrub den Kopf so tief in das Kissen wie der Vogel Strauß den seinen im Sand. Sie wollte nichts sehen und hören, vor allem wollte sie in diesem Zustand keine Entscheidung treffen. Am nächsten Morgen sollte sie zu einem einstündigen Fernsehinterview in den Sender Freies Berlin kommen.
    Das Fernsehinterview hatte sie nicht nur als Anerkennung ihrer Arbeit als Architekturgaleristin betrachtet. Es war auch eine Herausforderung. Der Journalist, der sie dazu eingeladen hatte, war ihr, das wusste sie aus früheren Begegnungen, wohlgesinnt, dennoch hatte er es abgelehnt, mit ihr über die Fragen zu sprechen, die er ihr stellen würde. Ihr Fieber hatte, auch wenn eine Grippe diagnostiziert worden war, mit dem kommenden Tag zu tun, da machte sie sich nichts vor. Es wäre ein für alle Beteiligten einleuchtender Grund gewesen, das Interview abzusagen, nur nicht für sie.
    Als sie nach einer unruhigen Nacht am nächsten Morgen erwachte, zeigte das Thermometer noch immer 39,5 Grad. Wenn ich diese Herausforderung nicht annehme, dachte sie, nehme ich auch keine andere mehr an. Ihr Entschluss stand fest. Sie fühlte sich durch das Fieber wie in einem Schwebezustand, fast wie eine Schlafwandlerin. Es war kein unangenehmes Gefühl. Als sie im Sender ankam, schüttelte die Maskenbildnerin nachdenklich den Kopf: »Ich weiß nicht, wie ich das kaschieren soll«, meinte sie und tupfte die Schweißperlen auf der glühenden Stirn der Frau ab, die sich am Schminktisch niedergelassen hatte. Sie war nicht mehr jung, aber auch nicht unattraktiv mit ihren mittellangen, rötlich-braunen Haaren, unter denen lange mattsilberne Ohrringe hervorblitzten, die den Ton des im Leopardenmuster schwarzweißgesprenkelten Schals aufnahmen, den sie über einem schwarzen Wollkleid trug. Die langen Beine in schwarzen, blickdichten Strümpfen würden sich, das sah die Maskenbildnerin auf einen Blick, gut bei Gesamtaufnahmen machen, was aber sollte sie bloß gegen die Schweißtropfen tun? »Ist das Ihr erster Fernsehauftritt?«, fragte die Maskenbildnerin teilnahmsvoll. Es war nicht ihr erster Fernsehauftritt, aber ihr längster und vor allem einer, auf den sie sich nicht hatte vorbereiten können.
    Wenige Minuten später saß sie ihrem Gesprächspartner im abgedunkelten Studio gegenüber. »Schwarz ist keine kleidsame Fernsehfarbe«, bemerkte dieser, während er sie aufmerksam betrachtete, »aber sie steht Ihnen gut.« Der Journalist fragte sie zunächst nach ihrem Spezialgebiet, der Architektur, und nach Aedes, dem ersten privaten Architekturforum weltweit, das sie zusammen mit ihrer Freundin gegründet hatte. Auf diesem Gebiet fühlte sie sich sicher. Gelegentlich stützte sie den Kopf in die Hände und dachte nach. Sie wirkte ruhig und konzentriert. Das hohe Fieber übte eine angenehm entspannende Wirkung auf sie aus. Umso überraschter war sie, als ihr Interviewpartner sie unvermittelt nach ihrer Herkunft fragte. Sehr langsam und sehr leise erzählte sie, wie sie später im Mitschnitt beobachten konnte, vom Tod der Eltern und des Bruders und davon, dass ihr Onkel und ihre Tante sie und ihre zwei Schwestern aufgenommen hatten. Auf die nächste Frage, wer denn ihr Onkel sei, entstand eine Pause. Schließlich antwortete sie ruhig: »Josef Neckermann.«
    Das war das erste Mal, dass sie in der Öffentlichkeit über ihre Herkunft sprach. Sie tat es nicht gern. »Die beiden wurden unsere Pflegeeltern, Vater und Mutter, und so haben wir sie auch genannt«, ergänzte sie. Auf die folgende Frage, womit Josef Neckermann denn nach dem Krieg angefangen habe, antwortete sie: »Er konnte die Textilfirmen meines Vaters übernehmen.« Und sie

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