Wie ein Haus aus Karten
herausstellen.
Den Mittelpunkt des neuen Zuhauses bildet erneut ein großer Wohnraum, der sich auf der einen Seite zur Terrasse und zum Garten hin öffnet und auf der anderen in ein kleines, verwinkeltes Zimmer, das zu Unrecht als Bibliothek bezeichnet wird. Der Neckermann’sche Buchbestand ist überschaubar und hält neben Pferdebüchern nur die obligatorischen deutschen Klassiker und großformatige, bunte Kunstbände bereit, die sich zu Weihnachten und an Geburtstagen wie Kaninchen vermehren und in denen niemand blättert bis auf meinen Stiefbruder Johannes, der sich als Kunstliebhaber entpuppt und sich den Gemälden alter Meister zuwendet.
In den ersten Jahren nach dem Umzug bin ich noch im Internat und nur in den Ferien in der Kleebergstraße. Von dort fahre ich, so oft es geht, zu meiner Großmutter nach Würzburg. Als Kind glaube ich, dass meine Großmutter ewig lebt oder doch wenigstens so lang wie ich, ganz einfach weil ich mir ein Leben ohne sie nicht vorstellen kann. Später begreift mein Kopf, dass ich mit ihrem Tod rechnen muss, doch diese Erkenntnis dringt nicht bis zu meinem Herzen vor. Wieder einmal bin ich auf einen Abschied nicht vorbereitet.
Im Sommer 1963 muss meine Großmutter ins Krankenhaus. Als ich sie von Berlin aus besuche, wohin mich die Pflegeeltern nach dem Abitur zu einem Hauswirtschaftspraktikum auf die Lette-Schule geschickt haben, sehe ich sie zum ersten Mal in einem Krankenhausbett liegen. Alles kommt mir unwirklich vor. Es ist ein besonders heißer Sommer, und während meine Großmutter ihn nicht mehr in ihrem Garten genießen kann, tue ich es auf dem Berliner Wannsee in vollen Zügen. Das Dekorieren einer festlichen Tafel, das exakte Falten der Wäsche und deren vorschriftsmäßiges Einordnen in den Wäscheschrank, das Sockenstopfen und die Kunst, mit wenigen Mitteln etwas Besonderes auf den Esstisch zu zaubern, das alles kann meine Aufmerksamkeit nicht annähernd so fesseln wie das kleine Segelboot meiner neuen Liebe, eines Medizinstudenten, der später mein zweiter Ehemann werden wird.
Als ich am Krankenbett meiner Großmutter sitze, die so schmal und zerbrechlich in ihren Kissen liegt und mit einem liebevollen, schwachen Lächeln meinen Berliner Abenteuern lauscht, möchte ich sie einfach nur heimholen, fort aus dem Krankenzimmer, in dem sie so verloren wirkt, und hinaus in die Sonne zu unserem Platz an der Löwenmauer. Stattdessen sitze ich hilflos an ihrem Bett und will ihre Hände nicht mehr loslassen. Wir stellen uns vor, wir wären wieder in unserem Garten unter der großen Eiche, und schmieden Zukunftspläne. Doch unsere Pläne haben keine Zukunft. Wir wissen es beide.
An dem Tag, an dem meine Großmutter stirbt, es ist der 17. September 1963, bin ich mit meinem Freund Louis und meiner Schwester Juli auf Helgoland. Meine Schwester, die zu dieser Zeit in Hamburg lebt, begleitet mich übers Wochenende. Angesichts meines stürmischen Verehrers und meines Entschlusses, meine Jungfräulichkeit in die Ehe zu retten, halte ich einen Ausflug zu dritt für die unverfänglichste Lösung. Damals bin ich einundzwanzig Jahre alt. Wir wohnen alle drei in einer Holzhütte, die nur aus einem Raum besteht, auf der Inseldüne vor Helgoland. Louis, der dort in den Semesterferien auf der Wetterstation arbeitet, hat sie für uns gemietet. Bevor ich dorthin abreise, versuche ich mich telefonisch bei meiner Pflegemutter abzumelden, so wie ich es immer tue, auch wenn uns ohnedies Hunderte von Kilometern trennen. Annemi und Necko sind bereits übers Wochenende zu einem Reitturnier aufgebrochen. Es ist das Wochenende, an dem meine Großmutter stirbt.
Meine Pflegeeltern können weder mich noch meine Schwester ausfindig machen. Erst am Montag erreichen sie Juli an ihrem Arbeitsplatz und unterrichten sie vom Tod der Großmutter. Meine Schwester ruft meinen Freund in der Wetterstation an. Sie berichtet von den Geschehnissen und teilt ihm mit, dass sie mich noch am selben Tag in Hamburg treffen müsse, um mit mir zur Beerdigung nach Würzburg zu fahren. Ich sitze vor der Holzhütte in den Dünen, als Louis auf mich zukommt und schon von weitem ruft: »Es ist nichts Schlimmes passiert, nur deine Großmutter ist am Wochenende gestorben!« Louis erzählt mir später, dass ich schreiend und wie von Sinnen über die Dünen ins Meer hinauslaufe. Er hat Mühe, hinter mir herzukommen und mich festzuhalten, da es einige Sekunden dauert, bis er begreift, dass das, was er mir gesagt hat, wohl doch etwas
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