Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wie ein Haus aus Karten

Wie ein Haus aus Karten

Titel: Wie ein Haus aus Karten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristin Feireiss
Vom Netzwerk:
Garderobe, die sie für ihren Chef zurechtlegt, entspringt nicht ihrem Stilempfinden, sondern Annemis detaillierten schriftlichen Anweisungen, die das Hausmädchen im Laufe der Jahre verinnerlicht hat. Die Tatsache, dass Necko das trägt, was für ihn vorbereitet wird, verhilft ihm zu einer der wenigen Ehrungen, die er sich nicht selbst verdienen muss: Er wird zum bestgekleideten Mann Deutschlands gekürt. Die von den Münzen ausgebeulten Hosentaschen, die selbst einen eleganten Anzug verunstalten, haben die Juroren nicht bemerkt.
    Necko braucht die Markstücke, um sie immer dann zu verteilen, wenn jemand einen guten Witz macht oder eine schlagfertige Antwort gibt. Er liebt gute Witze. Dann klatscht er sich vor Begeisterung auf die dünnen, aber muskulösen Schenkel, bleckt beim Lachen die Zähne wie seine geliebten Pferde, wenn sie wiehern, und holt aus seiner Hosentasche, in der die Münzen klimpern, eine Mark hervor. Diese Marotte hat Necko von dem bewunderten Generaldirektor Friedhelm Küppers übernommen, dessen Assistent er in jungen Jahren gewesen ist. Er selbst hat damals auf ähnliche Weise etliche Markstücke verdient.
    Wenn Großmutter Brückner sich morgens vergewissert hat, dass ihr Schwiegersohn bereits auf dem Weg in den Stall ist, setzt sie sich in den von ihm angewärmten Velourssessel an den Kaffeetisch. Sie akzeptiert die Ungestörtheit, die er zu dieser frühen Stunde für sich beansprucht. Dann vertieft sie sich in die Tageszeitung, die ihr Schwiegersohn auf dem Frühstückstisch zurückgelassen hat, und wartet ungeduldig auf Annemi, die zeitlebens freiwillig nie eine Zeitung in die Hand nimmt, es sei denn, es geht direkt oder indirekt um die Firma oder die Pferde. »Das musst du einfach wissen, Annemi!«, ruft Großmutter Brückner ihrer Tochter zu, wenn diese gegen zehn Uhr erscheint, und hält sie auf diese Weise auf einem zwar selektierten, aber doch aktuellen Stand des Zeitgeschehens.
    *
    In die Jahre in der Kleebergstraße fällt ein Besuch, den Annemi mit der freudigen Erregung eines Schulmädchens vor dem Abschlussball erwartet. Endlich ist es ihr gelungen, dem rumänischen Familienfreund und Vertrauten der Nachkriegsjahre, Ilie Popescu, ein Visum für die Bundesrepublik zu besorgen. Leicht ist das nicht, doch der Name Neckermann macht’s möglich. Annemi ist voller Vorfreude. Jahrzehnte sind vergangen, seit Ilie ihr in einer Zeit, in der Necko noch im Gefängnis saß und sie mit ihren drei kleinen Kindern in Gräfelfing notdürftig untergebracht war, zur Seite gestanden hat. Die spöttischen Kommentare ihres Mannes, wenn Ilies Name fällt, überhört Annemi. Diese spontanen Reaktionen meines Pflegevaters und die Gesprächsfetzen, die ich in den Tagen vor Ilies Ankunft aufschnappe, lassen in mir das Bild einer tiefen Beziehung zwischen Annemi und ihrem rumänischen Freund aus schweren Zeiten entstehen. Margarete Jahoda, Ilies rumänische Vertraute und meine lebenslange mütterliche Freundin, bestätigt mir dies Jahre später.
    Ihren Herzensfreund nach so vielen Jahren wiederzusehen macht Annemi glücklich. Auch Ilie Popescu ist glücklich, aber er macht sich Sorgen. Die wirtschaftlichen Verhältnisse haben sich seit damals zu seinen Ungunsten verändert, und auch seine Erscheinung, da macht er sich nichts vor, ist nicht mehr so einnehmend und elegant wie damals. Um sich für westliche Verhältnisse einzukleiden, verkauft Ilie vor seiner Abreise in Bukarest die wenigen Wertgegenstände, die er noch besitzt. Seine Vertraute Margarete Jahoda hilft ihm dabei. Schließlich kommt er mit einem neuen Hut auf dem Kopf und Hoffnung im Herzen am Flughafen in Frankfurt an. Für ihn und für Annemi, davon sind beide überzeugt, geht ein langersehnter Traum in Erfüllung.
    Doch da ist Annemis durchorganisierter Alltag. Weil sie ihre Termine nicht ohne weiteres umstellen kann, nimmt sie nun nicht nur Großmutter Brückner und ihren Pudel Sascha überallhin mit, sondern auch noch Ilie. Der sanfte Rumäne sagt nicht nein. Selbst dann nicht, als sie mit ihm zum Friseur geht und ihm anschließend zwei neue Anzüge anfertigen lässt. Seine Bemühungen bezüglich der Garderobe sind umsonst gewesen, das erkennt er jetzt, aber er weiß auch, dass ihm Annemi, die er noch immer verehrt und liebt, nur Freude bereiten, dass sie ihn nicht verletzen will. Dennoch verletzt es ihn. Es wird ein teurer Aufenthalt für Annemi und ein trauriger für Ilie Popescu. Sie scheiden mit der unausgesprochenen Erkenntnis, dass

Weitere Kostenlose Bücher