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Wie ein Haus aus Karten

Wie ein Haus aus Karten

Titel: Wie ein Haus aus Karten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristin Feireiss
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Bild der »arischen Rasse« passt, und gegen Eva gibt es ohnedies nichts einzuwenden. So werde ich auf den Namen Eva Kristine getauft, aus dem schon bald der Kosename Tini wird. Als ich diese »Tini« Jahrzehnte später nicht mehr sein will und auf meinem Vornamen Kristine – später dann Kristin – bestehe, ist das der erste Schritt auf dem mühevollen Weg zu mir selbst.

    *

    Jahrzehnte meines Lebens glaube ich, dass mir das Schicksal ein behütetes erstes Lebensjahr geschenkt hat, ein Jahr voller Wärme und Nähe, aus dem all das Ur- und Selbstvertrauen erwachsen ist, um das ich immer wieder beneidet werde. »Wie kannst du nur so selbstbewusst sein?« Diese Frage wird mir oft gestellt und nicht nur mit Bewunderung. »Es ist mein erstes Lebensjahr«, antworte ich dann. So muss es gewesen sein. Erst als mir meine ältere Schwester Uschi ebenfalls diese Frage stellt und ich ihr meine übliche Antwort gebe, eröffnet sich mir ein neues Kapitel in der Wahrnehmung meiner Kindheit.
    Im Zuge meiner Recherchen über mein erstes Lebensjahr besuche ich meine Cousine Annemie, die Tochter meiner Tante Greta Knab. Annemie kann sich genau erinnern, denn sie hat dieses Jahr an meiner Seite verbracht. Meine Mutter stillt mich wenige Wochen nach der Geburt ab. Zunächst ist das kein Problem. Der Muttermilchersatz ist auf Bezugsschein erhältlich und wird sogar nach Hause geliefert. Doch der Sommer 1942 ist ungewöhnlich heiß und schwül. Die Ersatzmilch, die jeden Morgen am Gartentor abgestellt wird, bleibt oft Stunden in der Sonne stehen, weil die Dienstmädchen vergessen haben, sie ins Haus zu holen. Die Milch verdirbt. Das anfänglich noch pausbackige Baby bekommt Durchfall und nimmt in wenigen Tagen so stark ab, dass man um sein Leben fürchtet.
    Das ist der Moment, in dem meine Cousine Annemie in mein Leben tritt. Sie hat gerade ihr Physikum in Würzburg bestanden und möchte in Berlin weiterstudieren. Ihr Vater, mein Onkel Emil Knab, schickt seine Tochter mit einem Koffer voller hochwertiger Babynahrung, die er dank seiner Beziehungen als Apotheker besorgen kann, nach Berlin. Von da an wohnt Annemie für ein Jahr im Kirchweg. Sie soll für mich sorgen, und sie tut es, gewissenhaft und liebevoll. Als ich Annemie mehr als vierzig Jahre danach in Hofheim besuche, erzählt sie mir, dass sie es als Herausforderung angesehen habe, mich gesund zu pflegen. Leicht ist es nicht. Durch die verdorbene Milch kommt zum Durchfall noch ein schwerer, juckender Ausschlag am ganzen Körper hinzu. Damit sich das Baby nicht kratzen kann, werden Körper, Arme und Beine mit Binden umwickelt. Das Zimmer ist abgedunkelt. Bis auf Annemie und meine Eltern darf es niemand betreten. Bei schönem Wetter wird der Kinderwagen mit dem vermummten Baby unter einen schattigen Baum in den Garten geschoben. Annemie erinnert sich an den Terriermischling Kora, der neben dem Kinderwagen sitzt und Wache hält.
    Die Eltern besuchen ihre Jüngste in dieser Zeit nicht oft, und auch die älteren Geschwister nehmen sie zunächst kaum wahr. Uschi wendet sich enttäuscht von dem Baby ab, das man nicht einmal auf den Arm nehmen darf. Das Kind ist in Binden eingewickelt, aber es hat keine Bindung. Noch heute leide ich unter klaustrophobischen Zuständen. Seit dem Gespräch mit meiner Cousine Annemie weiß ich, warum.

    *
    Als ich mit siebzehn Jahren, im gleichen Alter, in dem mein Bruder stirbt, den einzigen Ort aufsuche, an dem wir zusammen auf einem Foto abgebildet sind, unser Haus an der Rehwiese, sind von dem Wintergarten nur noch Überreste vorhanden. Die Steine sind längst von Hausbewohnern zum Ausbessern benutzt worden. Die Panoramafenster sind zugemauert. Die ehemalige Küche beherbergt einen Lebensmittelladen. Eine Reinigung ist in der großen Eingangshalle untergebracht. Die Balkone sind baufällig und nicht mehr zu betreten. Auf der Terrasse im ersten Stock steht ein Bretterverschlag, der als zusätzlicher Wohnraum dient. Im weiträumigen Wohnzimmer sind Zwischenwände eingezogen worden. Da, wo einst eine einzige Familie gelebt hat, sind nun sieben Parteien unter unwürdigen Bedingungen untergebracht.
    Meine Schwester Uschi und ich sind zusammen nach Berlin geflogen, um das Haus im Kirchweg zu begutachten. Wir machen zahllose Fotos, nüchterne Dokumente des Verfalls. Wir sprechen mit Bewohnern, die sich zu Recht über die unzumutbaren Zustände beschweren. Die Kosten für die dringend nötigen Reparaturen sind zu hoch, die Mieteinnahmen zu niedrig, und unsere

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