Wie ein Haus aus Karten
Gelände zur Rehwiese hin wird ein Mehrfamilien-Apartmenthaus errichtet. Heute stehen Muthesius-Villen unter Denkmalschutz. Der Architekt aus dem Kirchweg hat dafür gesorgt.
Der Zufall will es, dass ich meinem Geburtshaus noch einmal begegne. Ich habe durch meine Beschäftigung mit Architektur Julius Posener getroffen, einen alten, verschmitzten, blitzgescheiten und streitbaren Architekturhistoriker, der mir wie kein anderer die Welt der Architektur erschlossen hat. Ich unterstütze ihn, der schon zu Lebzeiten eine Legende der deutschen Architekturgeschichte ist, dabei, seine Biographie über den Architekten Hans Poelzig zu beenden, an der er schon seit Jahren arbeitet. Es dauert Monate, sich gemeinsam durch die Manuskript- und Aktenberge zu wühlen. Manchmal, wenn wir genug vom Stöbern, Schreiben und Korrigieren haben, machen Julius und ich Spaziergänge um die Krumme Lanke und entlang der Rehwiese.
Seine Augen funkeln vor Entzücken, wenn wir an Muthesius-Villen vorbeikommen, von denen es noch etliche in Zehlendorf gibt. Manchmal klingeln wir auch. Die Bewohner kennen den liebenswürdigen kleinen Mann mit der großen Liebe zur Architektur. Auch vor dem Kirchweg Nr. 27 halten wir an, da, wo früher mein Elternhaus gestanden hat. Julius Posener kennt meine Geschichte. Ich habe sie ihm erzählt. Er beschreibt mein Elternhaus in leuchtenden Farben und allen Details, so als stünde es vor mir, genauso herrschaftlich und einladend wie damals. »Es muss schön sein, in einem solchen Haus zur Welt zu kommen«, meint Julius und fügt lächelnd hinzu: »Sei nicht traurig, die schönen Dinge leben im Kopf weiter.«
* Die Zitate aus Josef Neckermanns Lebenserinnerungen sind hier und im Folgenden seinem Band Erinnerungen, aufgezeichnet von Karin Weingart und Haryey T. Rowe, Frankfurt a. M./Berlin 1990, entnommen.
** Carl Friedrich Mossdorf, Josef Neckermann – Weltmeister und Olympiasieger, München 1969, S. 21.
Dazwischen 1
Der giftgrüne VW Käfer ruckelte über die Schlaglöcher. Jeder harte Stoß des Wagens setzte sich wie ein Stromschlag über die Wirbelsäule bis in jenen Teil des Gehirns fort, in dem der Schmerz zu Hause ist. Sechshundert Kilometer Transitstrecke Frankfurt–Berlin. Doch die Schlaglöcher hatten auch ihr Gutes. Sie rissen den Fahrer und seine Begleiterin immer wieder aus ihrer Erschöpfung.
»Hol mich hier raus!«, hatte die junge Frau Stunden zuvor am Telefon gefleht. Ihre tränenerstickte Stimme machte es ihm schwer, sie zu verstehen; zu beruhigen vermochte er sie auch nicht. »Ich muss weg von hier!«, rief sie immer wieder in den Hörer, als müsste sie Hunderte Kilometer mit ihrer Stimme überbrücken. Fort von einer Ehe, die sie mit instinktiver Gewissheit als gescheitert erkannt hatte, obwohl sie ihr bis vor kurzem als Garant ungetrübter Harmonie mit sich selbst, ihrem Mann und ihrer Familie erschienen war. Einer Harmonie, nach der sie sich sehnte und die sie dennoch nicht ertrug. Weg aus einer Ehe, die die Bande an eine Familie, die ihr nach dem Tod der eigenen Eltern zugefallen und in der sie aufgewachsen war, nicht gelockert, sondern vielmehr noch enger geschnürt hatte. Denn während sie sich durch die Allmacht ihrer Pflegeeltern zunehmend bedroht fühlte, hatte ihr Ehemann sie bereits akzeptiert. Ihren Entschluss konnte und wollte sie nicht mehr in Frage stellen, nachdem sie bereits ihr ganzes bisheriges Leben in Frage gestellt hatte, das sie wie ein Kaffeewärmer umhüllt hatte, bis die Luft zum Atmen immer knapper geworden war. Ein Zurück gab es nicht. Sie hatte alle Brücken hinter sich abgebrochen und wusste, dass sie mit der Ungnade ihrer Familie zu rechnen hatte.
Die junge Frau hatte sich aus der neureichen Frankfurter Bürgerlichkeit mit Hilfe ihres Retters im freien Fall in den verebbenden Strudel der 68er Jahre nach Berlin katapultiert. Obwohl beide der gemeinsamen Flucht aus Frankfurt zunächst mehr Bedeutung beimaßen als einer Ehe, war ihnen schon bald die offizielle Bestätigung ihrer Zweisamkeit wichtig. Die Hochzeit war für sie die natürliche Folge des von ihnen beschrittenen Weges. So wie man einen Schuh, den man anzieht, auch zuschnürt, ohne darüber nachzudenken. Vor allem aber brauchten sie einander. Beide hatten sie im selben Jahr verloren, was ihnen das Liebste war: er seine Mutter, sie ihren Sohn.
Jahre zuvor waren sie sich zum ersten Mal in Berlin begegnet, wohin ihre Pflegeeltern sie nach dem Abitur geschickt hatten, um auf der Lette-Schule, wie es
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