Wie ein Haus aus Karten
sich für höhere Töchter gehörte, einen Grundkurs in Hauswirtschaftslehre zu absolvieren. An dem Abend ihrer ersten Begegnung, einer Abrissparty in Dahlem, saß die junge Frau allein auf dem Treppenabsatz einer alten Villa. Sie fühlte sich verloren, während die Paare zu dem sanften Sound Neil Youngs einem Kornfeld gleich auf der Tanzfläche hin- und herwogten. Er stand in einer Gruppe am Rand. Sie hatte ihn entdeckt, noch bevor er sie wahrnahm. Er kam auf sie zu, ziel- und selbstsicher, so als wäre die lange Narbe, die von der Augenbraue über das Lid direkt am Auge vorbei tief in die Wange einschnitt, kein Makel, sondern eine Auszeichnung. Als er vor ihr stehenblieb, sagte er unvermittelt: »Sie sehen aus wie eine Generalstochter. Sie passen nicht hierher.«
Doch er fand, dass sie zu ihm passe, auch noch, als sie nach einem halben Jahr nach Frankfurt zurückkehren musste, zum Unwillen der Pflegeeltern ohne Abschlusszeugnis. Sie hatte zu viele Stunden geschwänzt. Das war auf sein Konto gegangen, sein kleines Segelboot und den heißen Berliner Sommer. Der junge Mann hatte sie schon damals gefragt, ob sie ihn heiraten wolle. Ihre Entscheidung war schließlich gegen ihn ausgefallen, gegen eine in ihren Augen ungewisse Zukunft, eine Zukunft, die ihr Angst machte und die ihre Pflegeeltern ohnedies nicht gebilligt hätten. Damals hatte sie sich bei der Wahl ihres ersten Ehemanns für eine in ihren Augen kalkulierbare Welt entschieden. Wer nicht kalkulierbar war, war sie selbst.
Als sie nach vier Jahren wieder die Telefonnummer ihres damaligen Freundes wählte, genauso lange hatte ihre erste Ehe gedauert, war er am Apparat. Er war nicht einmal erstaunt, als hätte er auf ihren Anruf gewartet. Sie hatte ihren Mann, wie es in der Klageschrift hieß, »böswillig verlassen«. Nach der Rechtsprechung der 60er Jahre, in der noch das Schuldprinzip galt, war sie die Schuldige. Der Schuldspruch bedeutete für sie den Verlust ihres Sohnes. Er wurde dem Vater zugesprochen. Ihr Schwiegervater hatte ihr bei ihrer letzten Begegnung gedroht, sie im hintersten Winkel der Welt aufzuspüren, sollte sie versuchen, mit seinem Enkel, den er sehr liebte, wegzugehen. Auch ihre eigene Familie, die einflussreich genug gewesen wäre, den Ausgang des Scheidungsprozesses zu ihren Gunsten zu beeinflussen, stellte sich nicht hinter sie, sondern hinter den verlassenen Ehemann. Die Pflegetochter hatte den Familienkodex verletzt, nach dem private Probleme intern geregelt werden. Man arrangierte sich, aber man ließ sich nicht scheiden. Die Folgen einer Zuwiderhandlung waren ihr bekannt. Das Urteil hieß Ausgrenzung.
Später, als ihr Sohn erwachsen war, befand auch er sie für schuldig. Er zeigte ihr Dokumente, die in seinen Augen belegten, dass sie ihn freiwillig und ohne Druck aufgegeben hatte. Sein entscheidendes Argument war ihre Stärke: »Du hast in deinem Leben immer erreicht, was du wolltest. Wenn du mich gewollt hättest, hättest du mich bekommen.« Die Beweisführung war aus seiner Sicht folgerichtig, denn er kannte seine Mutter nur als starke, durchsetzungsfähige Frau. Richtig war sie dennoch nicht. Ihre Stärke war erst allmählich gewachsen. Sie war das Resultat ihres Überlebenswillens.
Nachdem sie ihren Sohn verloren hatte, verlor sie für viele Jahre ihre Fruchtbarkeit. Der sie erfolglos behandelnde Hormonspezialist, der ihre Symptome als »psychische Amenorrhoe« diagnostizierte, erklärte ihr, dass sich ihr Schmerz in ihrem Körper eingenistet und Teile seiner natürlichen Funktionen außer Kraft gesetzt habe. Derart tiefgreifende funktionale körperliche Fehlentwicklungen würden, abgesehen von Kriegszeiten, nur selten auftreten, und wenn, dann als Folge eines schweren Schocks. Die Trennung von Mutter und Sohn war der folgenschwerste Einschnitt im Leben beider Menschen. Mutter und Sohn hatten Wunden davongetragen, die sie sich nicht gegenseitig lecken konnten. Sie haben es beide überlebt, viele Jahre aber nicht gemeinsam.
Die Frau heiratete in Weiß. Auch beim zweiten Mal. Diesmal jedoch nicht in einem bodenlangen Brautkleid aus Brüsseler Spitze, sondern in einem weißen Wollkleid mit Rollkragen, zu dem sie weiße Stiefel trug. Wenigstens die Farbe sollte sie noch an eine normale Hochzeit erinnern. Ihr Mann entschied sich, wie jeden Tag, für eine helle Kordhose, dieselben gefütterten Stiefel wie jeden Tag in diesem kalten Winter und einen alten Lammfellmantel, den er von seinem ersten Gehalt als Assistenzarzt auf dem
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