Wie ein Haus aus Karten
selbst überlassen, allmählich jede soziale Bindung an ihre Umwelt verlieren. Als die Mutter des gefesselten Jungen an der Haustür klingelt, um ihren Sohn zu befreien und sich bei meinen Eltern zu beschweren, ist mein Vater wieder einmal im richtigen Moment zu Hause und stellt sich vor seine beiden Großen. Ein Fehlverhalten seiner Kinder kann er nicht erkennen. »Es ist doch nur ein Spiel«, bagatellisiert er den Vorfall. Spielverderber sind für ihn immer die anderen.
Für meine älteren Geschwister ist dieser Vater ein Geschenk des Himmels. Auch wenn er selten zu Hause ist und oft nur für eine Nacht bleibt, um auszuschlafen und die Wäsche zu wechseln, bevor er wieder auf Reisen geht, vermittelt er ihnen das Gefühl einer starken Präsenz. Er scheint immer gerade dann aufzutauchen, wenn sie ihn brauchen. Meine Geschwister fühlen sich wie große Teufel oder kleine Götter, da auch hinter verschlossenen Türen keine Strafpredigt folgt.
Im hintersten Winkel des Gartens steht eine Trauerweide, deren Äste so tief herabhängen, dass sie wie ein grünes Zelt wirken, daneben befindet sich ein kleines Haus mit Garage und Chauffeurswohnung. Sie ist unbewohnt, nur Ratten hausen dort. Die Erwachsenen stellen Fallen auf und vergessen sie. Als die Geschwister zum ersten Mal die verwesten Rattenkadaver sehen, laufen sie schreiend davon. Später kommen sie zurück und spielen mit ihnen.
Die ordentlich frisierten Kinder in Sonntagskleidung sind Uschi und Mockel nur für den Fotografen. Auf einem Foto aus dieser Zeit, im Atelier eines bekannten Berliner Porträtfotografen aufgenommen, sitzen sie vor einem kunstvoll drapierten Samtvorhang. Beide blicken aus großen, schwarzen Knopfaugen geradeaus in die Kamera, beide haben sie eine Bubikopffrisur, beide tragen sie die gleichen Rüschenblusen, wie man sie von Kinderporträts des ausgehenden 19. Jahrhunderts kennt. Aber da ist noch etwas, was meine Aufmerksamkeit erregt. Die Geschwister sitzen da wie Verschworene. Sie müssen sich nicht einmal ansehen, um das deutlich zu machen.
Es dauert lang, bis meine Eltern erkennen, dass die symbiotische Beziehung ihrer Ältesten nicht nur praktisch ist für sie, sondern in ihrer Ausschließlichkeit auch problematisch für die Geschwister. Noch aber machen sie sich darüber keine Gedanken. Es kommt ihrem Lebenswandel dieser Jahre entgegen. Sie haben wenig Zeit für ihre Kinder. Das ist auch der Grund, warum mein Bruder Mockel zu spät eingeschult wird und Uschi zu früh. So können die Geschwister zusammen zur Schule und in dieselbe Klasse gehen. In diesem unzertrennlichen Duo hat mein Bruder die Führung übernommen, nicht nur auf dem Schulweg. In der zweiten Klasse kann Uschi zwar ihren Namen schreiben, aber sie kennt weder ihren Geburtsort noch ihr Geburtsdatum. Auf die Frage: »Was hast du heute auf?«, antwortet sie abwesend: »Das weiß Mockel.«
Wenn die Kinder von der Schule nach Hause kommen, werfen sie ihre Schulranzen in die Ecke der holzgetäfelten Eingangshalle, von der neben dem offenen Kamin eine breite, geschwungene Eichenholztreppe nach oben führt. Meistens aber nehmen sie den Weg rechts durch die Küche über den Dienstbotentrakt, von wo eine schmale Stiege nach unten in den Keller und nach oben zu ihren Zimmern führt. Der Kindertrakt im ersten Stock hat eine Terrasse zum Garten hin, die so groß ist, dass man darauf sogar Rad fahren kann. Doch dafür interessieren sich die beiden ebenso wenig wie für ihre kleine Schwester Juli, die 1938 zur Welt kommt, obwohl diese besonders süß, besonders blauäugig und zunächst auch besonders fröhlich ist. Das Baby stört ihre Zweisamkeit. Die beiden Ältesten sind auch nicht darauf vorbereitet worden, dass die Familie größer wird. Vielleicht hat meine Mutter lange gezögert, ihnen zu sagen, dass sie wieder schwanger ist, weil sie nach mehreren Fehlgeburten fürchten muss, auch dieses Kind zu verlieren. Und dann hat sie es wohl ganz vergessen.
Meine Schwester Juli ist in den Jahren im Haus am Kirchweg nahezu isoliert. Mady hat kaum Zeit für ihre Kinder. Doch während sich die beiden Großen immer enger zusammenschließen und in ihrer eigenen Welt leben, in der die Erwachsenen ohnedies keinen Platz haben, ist Juli allein, ohne Spielgefährten, vor allem aber ohne die kontinuierliche liebevolle Zuwendung der Mutter.
Dass Mady, auch wenn sie zu Hause bleibt, für meine älteren Geschwister nicht der emotionale Mittelpunkt des Familienlebens ist, macht die Antwort meiner
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