Wie ein Haus aus Karten
Schwester Uschi auf meine Frage deutlich, was unsere Mutter denn in diesen Jahren gemacht habe. Viel Zeit habe sie für die Kinder nicht gehabt, meint meine Schwester. Meistens sei sie mit dem Vater geschäftlich unterwegs gewesen, habe mit ihm zusammengearbeitet, gelegentlich habe sie auch den Webstuhl benutzt, der eines Tages in der Eingangshalle des Landhauses steht. Die Frage, ob Mady das Weben als Hobby betrieben habe oder um neue Muster für die Stoffkollektion der Firma zu entwerfen, kann meine Schwester nicht beantworten.
Genau erinnert sie sich aber an das intensive gesellschaftliche Leben, das die Eltern führen, und daran, wie sie, bereits für den Abend gekleidet, in Frack und Ballkleid noch schnell für einen Gutenachtkuss in ihr Schlafzimmer huschen. Sie erinnert sich auch, dass die Eltern die beiden Großen schon früh auf Feste mitnehmen und sie aus diesem Anlass in unbequeme Abendkleidung stecken, wie Hühner in einen zu engen Verschlag. Juli ist noch zu klein. Sie bleibt zu Hause. Sie beginnt zu kränkeln, schließlich bekommt sie Asthma. Von da an wird sie regelmäßig verschickt. Aus einem der Kindererholungsheime schreibt Juli eine Karte: »Ich weine so viel. Ich will nach Hause. Holt mich doch ab.« Die Karte ist voller Fehler und kaum zu entziffern. Meine Schwester ist sieben Jahre alt. Sie wird nicht abgeholt. Das Gefühl, nirgends dazuzugehören, das in den ersten Lebensjahren von ihr Besitz ergreift, begleitet meine Schwester ihr Leben lang.
Im Gegensatz zu ihr hat Uschi in diesen Jahren nichts vermisst. Sie hat alles, was sie will, und das ist ihr Bruder Mockel. Ihm öffnet sie sich, allen anderen gegenüber ist sie verschlossen, oft auch unwirsch und aggressiv. Wenn die Kinder aus der Speisekammer Marmelade und Schokolade stibitzen, ihre Anziehsachen achtlos auf dem Boden verteilen und mit schmutzigen Stiefeln über den Teppich laufen, ist es immer nur Uschi, die von den Hausmädchen ausgeschimpft wird. Sie ist die Ruppige, Störrische. Sie macht in dieser Zeit ihre Spielsachen kaputt und reißt ihren Puppen Arme und Beine aus. Mockel dagegen wird von allen geliebt. Uschis Verhältnis zu ihrem Bruder hat das nicht getrübt. Sie liebt ihn ja auch.
Da die Eltern nur selten zu Hause sind, passen ständig wechselnde Hausangestellte auf die Kinder auf. Es sind von der Partei dienstverpflichtete junge Mädchen, die den vorübergehenden Arbeitsplatz im Haus an der Rehwiese nach ein paar Monaten gut genährt wieder verlassen. Meine Mutter hat einfach nicht wahrgenommen, dass ein Großteil der Würste, Schinken und Eier nicht in den Mündern ihrer Kinder landet, sondern von den stets wechselnden Dienstmädchen zu ihren eigenen Familien geschafft wird. Uschi und Mockel haben sich nie darüber beschwert. Sie haben vermutlich nicht einmal bemerkt, wie dünn sie geworden sind.
Großmutter Neckermann, inzwischen wieder in Würzburg, ist bei einem Besuch in Berlin entsetzt über die untergewichtigen und in ihren Augen verwahrlosten Enkel. Kurz entschlossen nimmt sie die beiden mit nach Würzburg, um sie unter ihren Fittichen wieder aufzupäppeln. Es ist das zweite Mal innerhalb weniger Jahre, dass sie sich zu einem solchen Schritt gezwungen sieht. Meine Mutter erhebt keinen Einspruch, schließlich erkennt sie selbst, wenn auch zu spät, den schlechten körperlichen Zustand ihrer Ältesten. Für die »Zwillinge«, wie Uschi und Mockel oft genannt werden, ist es eine glückliche Fügung, mehrere Monate bei ihrer Großmutter Neckermann verbringen zu dürfen.
Auf diese Weise kommen die Geschwister wieder einmal nach Würzburg. Das großbürgerliche Haus aus dem 19. Jahrhundert, das die Familie Neckermann in der Sterngasse im Stadtzentrum bewohnt, liegt nur wenige Minuten vom Domplatz entfernt. Das dünne Pfeifen des Wasserkessels ist den Kindern dort ebenso vertraut wie der volle Klang der Kirchenglocken, der in der Bischofsstadt zum guten Ton gehört. Meine Schwester Uschi erinnert sich an den Hinterhof des Hauses, in dem nicht nur Kohle gelagert wird, sondern auch die Pferdewagen stehen, auf denen sie transportiert wird. Im Wohnzimmer erregt ein großer barocker Aufsatzsekretär aus schwarzem Eichenholz ihre Neugierde. Es sind die vielen kleinen Schubfächer, hinter denen sie Geheimnisvolles vermutet, und die fremdländisch anmutenden Intarsien – Engel, die Masken in Händen halten, ein Harfenspieler im Hermelin, eine Dschunke auf hoher See –, an denen sich ihre kindliche Phantasie
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