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Wie ein Haus aus Karten

Wie ein Haus aus Karten

Titel: Wie ein Haus aus Karten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristin Feireiss
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Schwester Juli will nicht länger auf ihren Anteil vom Erbe warten. Sie ist entschlossen, bei Hamburg einen Bauernhof zu kaufen und Bäuerin zu werden. Wir müssen eine Entscheidung treffen, meine Schwestern Uschi und Juli und, da ich noch nicht volljährig bin, Dr. Voigt. Er ist mein Vormund und soll meine Interessen vertreten. Doch er gerät, da er inzwischen Justitiar im Unternehmen meines Pflegevaters Josef Neckermann geworden ist, in einen Interessenskonflikt. Und der fällt nicht zu meinen Gunsten aus.
    Würde West-Berlin, das Ende der 50er Jahre auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges einen großen Unsicherheitsfaktor darstellt, überhaupt noch eine Chance bekommen? Würde das Grundstück nicht mit jedem weiteren Jahr des Wartens noch mehr an Wert verlieren? Wir entscheiden uns, das Haus zu verkaufen. Necko schaltet für die Verhandlungen einen weiteren Anwalt der Firma Neckermann ein. Diesmal ist es Dr. Klaus. Zur selben Zeit wird meine Schwester Uschi, die sich ebenfalls um einen Käufer bemüht, von dem Vorsitzenden der CDU -Parteizentrale in Berlin kontaktiert. Er ist an der Muthesius-Villa interessiert und sichert meiner Schwester zu, das Haus zu erhalten und zu restaurieren. Uschi setzt sich mit Dr. Klaus in Verbindung, um den Vertrag vorzubereiten. Dieser lehnt ab. Er habe bereits einem Käufer eine mündliche Zusage gegeben, die er nicht mehr rückgängig machen könne, ohne sein Gesicht zu verlieren. Mein Pflegevater ergreift nicht Partei für uns.
    Ohne dessen Unterstützung wagt meine Schwester Uschi nicht, dem Firmenanwalt zu widersprechen, obwohl das ihr vorliegende Angebot höher ist. Sie ist zu diesem Zeitpunkt kein kleines Mädchen mehr, sondern eine verheiratete Frau und Mutter. Ich, inzwischen achtzehn Jahre alt und, wenn damals auch noch nicht volljährig, so doch alt genug, mich für den Verkauf meines Geburtshauses zu interessieren, erfahre von diesem Zwischenspiel erst ein halbes Jahrhundert später.
    Das forsche Auftreten des Anwalts mag noch zu erklären sein, die Reaktion meiner sonst durchaus geschäftstüchtigen Schwester aber verwundert mich. Sie lässt sich einschüchtern, obwohl es um ihre Interessen geht und die ihrer Geschwister. Im Leben von uns drei Schwestern sollte es schon bald zu weiteren Begebenheiten dieser Art kommen, bei denen wir, die Pflegekinder, nicht einmal versuchen, die eigene Meinung oder eine als richtig empfundene Entscheidung durchzusetzen. Stattdessen tun wir, was von uns erwartet wird: dankbar sein.
    Wir haben dem Interessenten des Firmenanwalts das Anwesen an der Rehwiese für 300 000 Mark überlassen. Die Geschichte Berlins hat sich anders entwickelt. Keiner konnte das voraussehen. Auch ich habe damals nicht geahnt, dass ich einmal in meine Geburtsstadt zurückkehren würde. Als ich es schließlich Jahrzehnte später tue, begegne ich meinem Geburtshaus noch einmal.
    Ich bin im Kirchweg eingeladen. Es dämmert, als ich vor dem Haus stehe. Im streng geometrisch angelegten Vorgarten blühen dunkelrote Rosen. Ihr Duft liegt schwer und betäubend in der Luft. Als sich die Eingangstür öffnet und den Blick in eine große holzgetäfelte Halle freigibt, suchen meine Augen wie selbstverständlich den hohen offenen Kamin. Er ist da, wo ich ihn erahnt habe, und es brennt Feuer darin. Alles kommt mir gleichzeitig unwirklich und vertraut vor, als wäre ich dort in einem früheren Leben schon einmal gewesen. Es ist nicht mein Geburtshaus, sondern das Nachbarhaus, das von demselben Architekten erbaut worden ist und in dem nun ein befreundeter Architekt mit seiner Familie lebt. Ich erzähle dem Gastgeber, dass meine Eltern nebenan gewohnt haben, damals, als die Villa noch stand. Er kann nicht verstehen, dass wir den Abriss des Hauses nicht verhindert haben. Ich habe keine Antwort, zumindest keine, die sich in wenige Sätze fassen ließe. Ich nehme das Buch über Muthesius-Villen in Berlin, das der Gastgeber aus dem eingebauten wandhohen Bücherregal holt, und streife, Seite um Seite umblätternd, durch mein Geburtshaus. Das Buch zeigt Grundrisse und Schnitte und eine Vielzahl von Fotos, die ich noch nie zuvor gesehen habe. Ich bin traurig über alles Unwiederbringliche, Endgültige.
    An diesem Abend erfahre ich, dass mein Geburtshaus gleich nach dem Verkauf abgerissen wird. An seiner Stelle entsteht binnen weniger Monate ein Supermarkt. Er hat in dieser Villengegend gefehlt und garantiert hohe Umsätze. Das Grundstück wird parzelliert, und auf dem abfallenden

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