Wie ein Haus aus Karten
Jüngsten. Da ich zu dieser Zeit blass und kränklich bin, aber kein Obst essen will, handelt Tante Greta mit mir ein Abkommen aus, das angesichts des chronischen Eiermangels jener Jahre eine Provokation für die übrigen Familienmitglieder darstellt. Für jede Erdbeere, die ich esse, macht mir Tante Greta ein Zuckerei.
Der Garten mit den von Birken eingefassten Kieswegen, den Obstbäumen und der gusseisernen Pumpe, der nicht weit von der Apotheke entfernt liegt, ist mein liebster Spielplatz. Einen mit Rutsche und Schaukel gibt es ohnedies nicht im Dorf. Im Garten steht auch eine kleine Holzhütte mit einer noch kleineren überdachten Veranda davor. Die Hütte ist für die Gartenwerkzeuge vorgesehen. Hier richte ich mir mit der ersten Freundin meines Lebens, Helga, ein eigenes Zuhause ein. Immer wieder schleppen wir heimlich Kissen, Decken, Teller, Tassen und Besteck dorthin. Am Wochenende tun das die Erwachsenen, denn dann findet das Familienleben im Garten statt.
Ich höre, dass meine Freundin Helga ein Flüchtlingskind ist, und glaube, dass jedes Mädchen, das ein engelsgleiches Gesicht, blonde Locken und einen Buckel hat, ein Flüchtlingskind sei. Mein Cousin Helmut, der inzwischen mit dem Medizinstudium begonnen hat, will mit Helga einen Spezialisten aufsuchen. Er vermutet, dass es sich bei der Erkrankung des Mädchens um Knochentuberkulose handelt. Der Vater meiner Freundin lehnt eine Behandlung seiner Tochter mit den Worten ab: »Uns hat ein Fluch getroffen, da hilft auch kein Arzt.« Die schöne, bucklige Helga heiratet jung und stirbt jung.
Der Krieg ist in vollem Gang. Mady ist in großer Sorge um ihre Mutter, die noch immer in Würzburg lebt. Sie nimmt ihr unersetzliches Fahrrad und radelt nach einem Bombenangriff auf Würzburg zu ihr. Es sind über hundert Kilometer, aber sie macht keine Pause. In einem ihrer unzähligen Briefe berichtet sie davon. Sie eröffnen einen Einblick in diese Zeit und sind gleichzeitig lebhafte und liebevolle Zeugnisse der Persönlichkeit meiner Mutter. Sie schreibt an ihre Schwägerin Annemi: »Die Bombe fiel kurz nach dem Voralarm. Zu diesem Zeitpunkt war meine Mutter noch auf der Treppe. Das Treppenfenster brach durch den Luftdruck und stürzte über sie.« Ruth Gatzke, Julas Großnichte und spätere Sekretärin meines Vaters, eine ebenso unerschrockene wie kräftige Frau, ist als Erste zur Stelle. Sie nimmt meine verängstigte Großmutter kurz entschlossen auf den Arm und trägt sie in den Luftschutzkeller.
Mady lässt nichts unversucht, ihre Mutter nach Hofheim zu holen, aber es gelingt ihr nicht. Resigniert schreibt sie an Annemi: »Du kennst sie ja. Ihr Pflichtbewusstsein ist zu groß, dabei dürfte sie in ihrem Alter doch ein wenig mehr an sich denken.« Zu dem allgemeinen Leid der Kriegsjahre kommt der persönliche Kummer meiner Großmutter. Und er wiegt schwer. Die Frau ihres jüngsten Sohnes Walter, Else, die mit ihren Kindern Peter und Marlene zusammen mit ihrer Schwiegermutter Jula nach dem ersten Bombenangriff auf die Würzburger Innenstadt auf das außerhalb des Zentrums gelegene Familiengrundstück am Friedrich-Ebert-Ring zieht, macht dieser das Leben zur Qual. Geliebt von ihren Kindern und ihrem Mann Walter, der zu dieser Zeit an der Front ist, nicht aber von den übrigen Neckermann’schen Familienmitgliedern, die ihre schrille, derbe Art ablehnen, zahlt Else zurück, und sie zahlt heim. Es trifft meine Großmutter. Sie darf keines der Betten benutzen. Tagelang muss sie auf einem Liegestuhl übernachten. Der Kühlschrank wird verschlossen. Das Badezimmer darf sie nicht betreten. Ihre Kinder hält Else Neckermann dazu an, nicht mit ihrer Großmutter zu sprechen.
Überwunden hat meine Großmutter das Erduldete nicht. Sie hätte sich als Oberhaupt der Familie durchsetzen können, aber sie schweigt und erträgt. Nicht Hilflosigkeit ist die Ursache ihres Verhaltens, es ist ihre persönliche Entscheidung. Sie möchte ihren jüngsten Sohn, der von klein auf ihres Schutzes bedurfte, nicht in einen Konflikt stürzen, denn Walter liebt sie beide, seine Frau und seine Mutter.
Wenige Wochen nach dem ersten Bombenangriff auf Würzburg folgt die völlige Zerstörung der Stadt. Zum ersten Mal in ihrem Leben hört Mady ihre Mutter, die sie nach einem erneuten Luftangriff endlich am Telefon erreicht, weinen. Mady packt wieder einmal, ohne lange nachzudenken, ihr Fahrrad und radelt in zehn Stunden von Hofheim nach Würzburg. Um fünf Uhr früh kommt sie an. Der Brief, den
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