Wie ein Haus aus Karten
Flohmarkt gekauft hatte. Nach der standesamtlichen Trauung gingen sie nach Hause in ihre Anderthalbzimmerwohnung mit Kochnische am Savignyplatz. Sie legte eine orangefarbene Tischdecke auf, die zu der orangefarbenen überdimensionalen Papierblume passte, die in einem Tonkrug auf dem Boden stand. Sie tranken Tee und aßen Bienenstich, den Lieblingskuchen ihrer Kindheit.
Die kleine Wohnung war ihr Hamsternest. Die junge Frau kuschelte sich in ihre neue Welt ein wie in eine Daunendecke. Sie liebten einander wie Ertrinkende, und sie lebten wie Ertrinkende. Beide klammerten sich an alles, was sie über Wasser hielt. Sie buk für ihn Weihnachtsplätzchen nach Rezepten seiner verstorbenen Mutter, obwohl es nicht Weihnachten war. Hatte er Nachtdienst im Krankenhaus, kam sie zu ihm, weil sie nicht allein sein konnte, gerade nachts. Kaum schloss sie die Augen, träumte sie von ihrem Sohn. Es waren Träume ohne Hoffnung. Im Traum war er noch ein Baby und lag in einem Papierkorb. Als sie ihr Kind herausholen wollte, wurde es immer kleiner, bis es schließlich ganz verschwand. Sie schrie im Traum und in der Realität. Ihr Mann weckte sie.
Tagsüber versuchte sie ihr verdorrendes Selbstgefühl wieder aufzubauen. Was ihr dabei half, war der Umstand, dass sie die Einzige war, die die Nähe ihres ebenso liebevollen und sensiblen wie aufbrausenden und manischen Mannes gelassen ertrug. Nach den Jahren ihrer ersten Ehe, in denen sie als die Schwierige, Kapriziöse gegolten hatte, tat es ihr gut, die Verständnisvolle zu sein. Zunächst war sie es auch.
Zweiter Ort
Die Apotheke am Marktplatz
Es ist das Jahr 1943. Die Familie Lang muss Berlin verlassen und zieht nach Hofheim in Unterfranken zu der Schwester meines Vaters, Greta Knab, und ihrer Familie. Grund für die überstürzte Abreise ist eine Aufforderung der Regierung, der zufolge Mütter mit kleinen Kindern sich mit Beginn der Flächenbombardements der Großstädte in ländlichen Gebieten in Sicherheit zu bringen haben. Mein Vater begleitet seine Familie nicht nach Hofheim. Er bleibt in Berlin, um sich, solange es geht, an Ort und Stelle um seine Geschäfte zu kümmern.
Leicht fällt der Abschied von Berlin nicht. Die Familie muss ihr erstes gemeinsames Zuhause aufgeben, eines, das sie gestaltet hat, das sie mit Leben erfüllt hat, das sie geliebt hat. In seiner »Vorrede für die Nachgeborenen«, einer Schrift, die ich unter den Unterlagen meines Vaters finde, schreibt Günther Weisenborn: »Jeder Mensch findet in seinem Leben bestimmte Augenblicke, in denen ihm Türen aufgingen, wichtige Momente der inneren Biographie, die er nicht vergisst.« Der Abschied vom Kirchweg in Berlin ist ein solcher wichtiger Moment für meine Eltern. Aber die Türen gehen nicht auf, sie gehen zu, für immer. Das Landhaus an der Rehwiese haben meine Eltern nicht verkauft. Sie haben fest daran geglaubt, einmal dorthin zurückzukehren.
Greta, die älteste Schwester meines Vaters, die in den Hofheimer Jahren zur zentralen Figur der zusammengewürfelten Großfamilie wird, hat nichts von der Leichtigkeit, geschweige denn dem Leichtsinn ihres Bruders. Schon als kleines Mädchen hat sie einen strengen Zug um den Mund, der sich im Laufe ihres Lebens zur Furche vertieft. Ein Foto von 1904 zeigt sie mit ihrer Schwester Maja. Die Mädchen sind im Stil des gehobenen Bürgertums des ausgehenden 19. Jahrhunderts gekleidet: karierte Rüschenröcke, überdimensionale Hüte aus Tüll, schwarze Lackschuhe. Sie halten aufgespannte Sonnenschirme aus Brüsseler Spitze in den Händen. Die verspielt elegante Kleidung, auf die ihr Großvater Kessler so viel Wert gelegt hat, passt nicht recht zu den ernst blickenden Gesichtchen mit den durchdringenden Augen.
Als Greta heranwächst, vermeidet sie es bewusst, auch nur ansatzweise weibliche Reize ins Spiel zu bringen. Es gibt ein Foto von ihr, auf dem das ursprünglich naturgelockte Haar, durch einen Mittelscheitel geteilt, straff nach hinten gekämmt ist. Sie bevorzugt Kleider mit Stehkragen, die ihre aufrechte Haltung noch unterstreichen. Greta, die Unnahbare, will nicht gefallen, aber sie hat Ambitionen. Sie spielt besser Klavier, als dies für höhere Töchter üblich ist, und sie macht eine Ausbildung zur Säuglingsschwester, als sie nach der Mittleren Reife die Schule verlässt. Zum Abschlussexamen kommt es nicht. Sie hat Prüfungsangst. Später möchte Greta dennoch das Abitur nachholen und studieren, aber der Vater, der so unerbittlich auf die akademische
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