Wie ein Haus aus Karten
Ausbildung seines Sohnes Hans achtet, gesteht den weiblichen Familienmitgliedern eine solche nicht zu.
Seine zweite Tochter Maja, die ihn schmetterlingsgleich umschwirrt, betrachtet er dagegen mit Wohlgefallen und Wehmut. Sie erfüllt sein Ideal der zugewandt-ergebenen Frau und macht ihm zugleich schmerzlich deutlich, was ihm in seiner Ehe an der Seite seiner selbstbewussten, durch ihre Herkunft unabhängigen Frau versagt geblieben ist.
Greta, die Ältere, verstaut das Bündel ihrer unerfüllten Träume nicht ohne Bitterkeit in den Tiefen ihres einsamen Herzens. Aus dem enttäuschten Mädchen wird eine strenge junge Frau. Als sich ein ernsthafter Bewerber einfindet, beschließt sie zu heiraten, um auf diese Weise dem Elternhaus den Rücken kehren zu können. Das Jawort des Vaters hängt jedoch an einem seidenen Faden. Gretas Auserwählter, der Apotheker und Offizier der Reserve Emil Knab, versucht die allmählich versiegende Konversation bei seinem Antrittsbesuch im herrschaftlichen Haus der künftigen Schwiegereltern in Würzburg durch die Bemerkung zu beleben, dass er den Krieg bereits für verloren halte. Dass Großvater Lang nichts davon hören will und den Ahnungslosen beinahe vor die Tür setzt, liegt nicht an seiner Vaterlandsliebe, sondern an besagten Kriegsanleihen, die er im Bewusstsein seiner gutverzinsten patriotischen Pflicht in großem Umfang aufgenommen hat und um die er nun zu Recht fürchtet.
Greta und Emil Knab bekommen drei Kinder. Als ihr Ältester, Helmut, geboren wird, ist Greta gerade dreiundzwanzig Jahre alt, danach folgen Annemie und Margarete. 1931 erfüllt sich Emil Knabs Lebenstraum. Er möchte eine Apotheke kaufen und sich niederlassen, und er findet sie in Hofheim in Unterfranken in zentraler Lage am Marktplatz gegenüber der Kirche. Um die dafür aufgenommenen Schulden abzahlen zu können, wird streng gewirtschaftet. Die Familie spart. Mein Cousin Helmut erinnert sich an seinen Herzenswunsch, eine Kamera, und an die Reaktion seiner Mutter: »Solange wir keinen Esstisch haben, brauchst du auch keinen Fotoapparat.«
Das neue Zuhause der Familie Lang im Fachwerkhaus am Marktplatz mit seinen schmalen Gängen, dem Dachboden, dem gepflasterten Innenhof und der angrenzenden Scheune mit den hohen, wackeligen Leitern, auf die wir nicht steigen dürfen, es aber dennoch heimlich tun, ist für die Lang-Geschwister ein einziger großer Abenteuerspielplatz. Während Mady in den wenigen Augenblicken, in denen sie in dieser Zeit zur Ruhe kommt, wehmütig an Berlin zurückdenkt, fühlen sich die Kinder mit dem ihnen eigenen Pragmatismus vom ersten Tag an in ihrer neuen Umgebung wohl. Wenn Tante Greta vor Festtagen in den gepflasterten Innenhof der Apotheke geht, in den wegen der hohen Mauern nur selten ein Sonnenstrahl fällt, um in der von Hand betriebenen Eismaschine für die Großfamilie Speiseeis zuzubereiten, folgt ihr die Kinderschar und betrachtet andächtig das Wunder der Eiswerdung. In der Mitte des Holztrogs befindet sich ein Metallzylinder, der mit Brucheis umgeben wird. Ein Zahnrad, das die Tante unaufhörlich dreht, sorgt dafür, dass sich die rübenzuckersüße Masse im Zylinder in Speiseeis verwandelt.
Während der Hof von allen Bewohnern des Hauses betreten werden darf, ist der Dachboden für uns Kinder verbotenes Terrain. Dort sind in einem Holzverschlag die gefährlichen Medikamente aus der Apotheke aufbewahrt. Ich prüfe täglich, ob Onkel Emil nicht doch einmal vergessen hat, die Tür zum Dachboden abzuschließen. Nur an seiner Hand darf ich in diese verbotene Welt hinaufsteigen, die sich hinter einem Lattenverschlag mit einem schwarzen Totenkopf darauf verbirgt. Oft geschieht das nicht. Den gestrengen Onkel, der mit seiner mächtigen Statur, seinem kantigen Gesicht mit den buschigen Augenbrauen und seiner dröhnenden Stimme von allen respektiert und von einigen gefürchtet wird, und mich verbindet ein geheimer Pakt. Er nennt mich Stine, und Stine darf alles. Vor dem Schlafengehen schickt er mich zu meiner Freude und zur Empörung seiner Frau zur Brauerei nebenan, um einen Krug frisch gezapftes Bier für ihn zu holen. Später, auf seinem Schoß sitzend, darf ich den Schaum, der in der Nase kitzelt, abschlürfen.
Kommen in der Apotheke die bei allen Hausbewohnern beliebten kleinen Werbeproben für Hautcremes oder Zahnpasta an, steckt er sie mir heimlich zu, noch bevor die anderen sie entdecken. Auch Tante Greta verwöhnt mich, und gelegentlich wetteifern beide um die Gunst der
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