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Wie ein Haus aus Karten

Wie ein Haus aus Karten

Titel: Wie ein Haus aus Karten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristin Feireiss
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nicht zweifle, hat sie diese Zusammenhänge nicht durchschaut.
    In Hofheim werden die Vorräte knapp, der Wohnraum auch. Doch meine Mutter, die treibende Kraft der Hofheimer Gemeinschaft, lässt sich nicht unterkriegen. An ihre Schwägerin Annemi schreibt sie: »Ich wachse an den Aufgaben, und gesundheitlich bin ich noch recht stabil.« Und sie fährt fort: »Wir beginnen jetzt schon mit der Arbeit im Mistbeet. Der Salat steht schon recht gut, und nun hoffen wir, ihn mit Decken, Matten etc. durchzubekommen. Als Mangelware haben wir nur Zucker und Salz, das nicht zu bekommen ist. Höchstens 50 Gramm pro Kopf.«
    Zunächst lebt die Großfamilie von den vielen Vorräten aus dem Garten, doch die Lebensmittel reichen schon bald nicht mehr aus, da die Hausgemeinschaft fast täglich größer wird. Um Nachschub heranzuschaffen, zweigt meine Mutter in der Apotheke Medikamente ab und fährt damit aufs Land, um sie gegen Schinken, Kartoffeln, Bohnen und Eier einzutauschen. Oft ist Mady den ganzen Tag mit dem Fahrrad unterwegs. Diese Touren sind nicht ungefährlich, das weiß sie. Einmal begegnet sie einem desertierten Soldaten. Getan hat er ihr nichts. Sie teilt mit ihm die Angst, den Hunger und die Lebensmittel.
    Keiner, der an der Apothekentür klingelt, wird abgewiesen. Es ist vor allem meine Mutter, die sich in dieser Situation durchsetzt. Eine Frau und ihre fünf kleinen Kinder finden in der Apotheke Unterschlupf, nachdem sie acht Tage auf der Landstraße herumgeirrt sind. Mady schreibt an ihre Schwägerin Annemi: »Ich habe bis jetzt nur ein Zimmer für sie. Mir tun all die armen Menschen so leid. Wer weiß, wann wir so dastehen. Was soll man tun? Man überlegt so viel und kommt mit seinen Gedanken doch nicht weiter.«
    Mady tauscht in dieser Zeit klaglos ihre elegante Garderobe der Berliner Jahre gegen die den veränderten Lebensbedingungen angepasste Kittelschürze ein. Nur ein paar gute Kleidungsstücke und den dunkelroten Lippenstift hebt sie sich für die Tage auf, an denen ihr Mann nach Hause kommt. Oft geschieht das nicht. Die häufige Abwesenheit des Vaters hat die uneingeschränkte Bewunderung seiner ältesten Tochter Uschi, die sie zeit ihres Lebens wie einen kostbaren Schatz bewahrt, nicht beeinträchtigt, im Gegenteil. Während die Hilfsbereitschaft der Mutter für sie selbstverständlicher Bestandteil des täglichen Lebens ist, erfüllt es meine Schwester mit Stolz, als der Vater einen neunzehnjährigen Kriegsheimkehrer, der im Hofheimer Lazarett nur unzureichend versorgt wird, in die Familie aufnimmt und ihm in seiner Firma Arbeit gibt. Als die Schulen in Hofheim vorübergehend geschlossen werden, unterrichtet der junge Mann die beiden Ältesten.
    Der häusliche Friede der Großfamilie, um den sich alle mit unterschiedlicher Intensität bemühen, wird immer wieder von Erschütterungen heimgesucht. Bei dem beachtlichen Konfliktpotential, das das Zusammenleben von inzwischen fast zwanzig eigenständigen und eigenwilligen Menschen unter einem Dach mit sich bringt, ist das nicht verwunderlich, auch wenn meine Tante Greta ein strenges Regiment führt. Sie selbst ringt nur bei den gelegentlichen cholerischen Ausbrüchen ihres Gatten Emil, aus denen dieser sanft wie ein Lämmchen hervorgeht, um Fassung. Tante Greta hat es sich zur Aufgabe gemacht, in ihrem Haus für Ordnung und Moral zu sorgen. Leicht ist das nicht. Das Hausmädchen Traudel entdeckt sie im Bett ihres Sohnes Helmut. Noch in derselben Nacht wirft sie ihren missratenen Sprössling aus dem Haus. Traudel, in den Augen der gestrengen Greta die Ursache des Übels, darf dennoch bleiben. Meine Tante kann auf keine zupackende Hand verzichten. Das Hausmädchen bekommt jedoch die Auflage, sofort die Küche zu verlassen, wenn Tante Greta sie betritt.
    Auch das andere Dienstmädchen, Zilli, führt einen Lebenswandel, den sie nicht billigen, aber auch nicht verhindern kann. Der kaffeebraune Ludwig, ein in Hofheim stationierter GI, hat nicht nur ein Auge auf Zilli geworfen, er versorgt auch die Familie mit Zigaretten und Schokolade. Bei seinen täglichen Besuchen wirft er die Jüngste, das bin ich, durch die Luft und tanzt mit ihr auf dem Arm durch die Küche. Das Wohnzimmer darf Ludwig nicht betreten. Dass er zumindest einmal Zillis Kammer betreten haben muss, wird rundum sichtbar, als ihre karierte Kittelschürze über dem Bauch zu spannen beginnt. Kurz vor der Geburt des deutsch-amerikanischen Vermächtnisses löst sich Ludwig in Luft auf, und für die Familie

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