Wie ein Haus aus Karten
sie nach ihrer Rückkehr an ihre Schwägerin Annemi schreibt, gibt wenig Aufschluss über ihre eigene Verfassung nach der langen, gefährlichen Fahrt, wohl aber über die ihrer Mutter: »Mutti schluchzte wie ein Kind und war seelisch und körperlich fertig. Sie spricht kein Wort.« Mady packt das Nötigste zusammen und verlässt mit ihrer Mutter und deren Faktotum Therese die brennende Stadt. Obwohl Zugfahrten wegen der Bombenangriffe lebensgefährlich sind, nutzt sie die nächste Möglichkeit. In Hofheim wird meine Großmutter Neckermann von Emil und Greta Knab liebevoll aufgenommen, so als wäre es die eigene Mutter.
Was im Hinblick auf diese Begebenheit nicht in den Briefen meiner Mutter, wohl aber in den Erinnerungen meines Pflegevaters steht, ist der Umstand, dass Josef am 16. März 1945 einen anonymen Anruf bekommt, in dem ihm »eine unbekannte Männerstimme mit starkem Akzent« mitteilt, dass »Würzburg noch heute zerstört wird«. Er nimmt die Warnung ernst und ruft seine Schwester Mady in Hofheim an mit der Bitte, die Mutter umgehend aus Würzburg zu holen. Ob die Warnung ihres Bruders oder die Tränen ihrer Mutter sie bewogen haben, Mady hat keinen Augenblick gezögert. Mein Pflegevater schreibt: »Meine Schwester stellte keine langen Fragen. Sie fuhr sofort los und holte unsere Mutter ab.« In dieser Nacht wird Würzburg in ein Trümmerfeld verwandelt. Die Bischofsstadt gleicht einem Friedhof.
Mady schreibt Annemi in einem ihrer gehetzten Briefe, was meine Großmutter, die bis dahin erfolgreich versucht hat, Haltung zu bewahren, in einen so bedauernswerten Zustand versetzt hat, bittet sie aber, Necko gegenüber nichts vom Verhalten der Schwägerin zu erwähnen, um die angespannte Situation zwischen den Brüdern nicht weiter zu verschärfen. Annemi hält sich nicht daran. Josef ist empört, und auch er schweigt nicht. Die gegenseitigen Anschuldigungen belasten den ohnedies labilen Familienfrieden.
Es ist nicht allein das Vertrauen meiner Mutter in ihre Schwägerin Else, das in dieser Zeit zerbricht, auch die Beziehung zur Frau ihres Bruders Josef bekommt einen Sprung. Meine Mutter kann ihr nicht mehr bedingungslos vertrauen. Tief enttäuscht fragt sie Annemi in einem Brief: »Warum hast Du das getan? Warum hast Du das weitergegeben? Was hast Du damit erreichen wollen? Ich könnte mich ohrfeigen, Dir so viel erzählt zu haben.«
Das vorübergehende Zerwürfnis mit ihrer Schwägerin wird angesichts der Sorgen, die sich Mady um ihren eigenen Mann macht, zum Nebenschauplatz. Er ist wieder einmal geschäftlich in Polen. Im Februar 1945 schreibt meine Mutter: »Ich bin manchmal ganz unglücklich, wenn ich daran denke, was noch alles kommen wird und was aus den Kindern wird. An unsere Verluste in Kalisch und Lissa denke ich gar nicht mehr. Ich machte mir nur Sorgen, bis ich wusste, dass Hansi gut herausgekommen war. Er war in Berlin gewesen, um endlich die Genehmigung zur Verlagerung des Rüstungsbetriebs zu bekommen. Es war nicht möglich, und so fuhr er am Sonntag zurück, kam aber gar nicht mehr nach Lissa, da die russischen Panzerspitzen schon in der Nähe waren. Leider gingen auch seine warme Wäsche, seine Schuhe und seine Anzüge dabei zum Teufel. Außer seiner Aktentasche hat er nichts gerettet. Auch alle deutschen Angestellten kamen glücklich heraus. Das Leben ist die Hauptsache.«
Dass mein Vater in Kalisch, Lissa und Lodsch auch noch während des Krieges mit Unterstützung des damaligen Staatssekretärs im Wirtschaftsministerium, Dr. Franz Hayler, Textilfabriken und, wie meine Mutter schreibt, Rüstungsbetriebe aufbauen und betreiben kann, ist ebenso erstaunlich wie bedenklich. Erst Anfang 1945 muss er sie aufgeben. Mein Vater verfolgt die Idee, in Polen eine umfassende Produktionskette aufzubauen, die von der Schafzucht bis zum fertigen Stoff reicht. Man muss davon ausgehen, dass in seinen Betrieben vorwiegend polnische und jüdische Zwangsarbeiter beschäftigt sind.
Die Frage, ob meine Mutter die politischen Hintergründe der geschäftlichen Unternehmungen ihres Mannes kennt, ob sie weiß, dass gerade in Lodsch, dem ehemals von Juden geprägten polnischen Textilzentrum, das zusammen mit einem großen Teil Posens als »Warthegau« ins Dritte Reich eingegliedert wird, und 200 000 Juden zwischen 1939 und 1944 das dort errichtete Ghetto Litzmannstadt durchlaufen, muss in diesem Zusammenhang gestellt werden. Eine Antwort gibt es nicht. Ihren Briefen nach zu urteilen, an deren Wahrhaftigkeit ich
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