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Wie ein Haus aus Karten

Wie ein Haus aus Karten

Titel: Wie ein Haus aus Karten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristin Feireiss
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beginnen schokolade- und zigarettenarme Zeiten.
    Damit nicht genug, wird Tante Gretas zehnjährige Tochter Margarete zusammen mit meiner Schwester Uschi und meinem Bruder Mockel in der Schule mit Kondomschächtelchen erwischt. Der Schulrat will die Kinder von der Schule weisen. Deren wahrheitsgemäße Erklärung, sie hätten sie leer in der Apotheke gefunden und ihre Radiergummis darin verwahrt, glaubt der Schulrat nicht. Es ist mein Vater, der die Sache in die Hand nimmt. Es gelingt ihm, den Beschluss dank seiner Autorität und seines Ansehens rückgängig zu machen. Sein Vorschlag, bei dem der Schulrat nicht das Gesicht verliert, ist gut kalkuliert. Mein Vater verpflichtet sich, die Kinder zu einem Psychologen zu schicken. Getan hat er es nicht.
    Während Tante Greta herrisch und mürrisch für einen geregelten Tagesablauf sorgt, Emil zusammen mit meinem nur sporadisch auftauchenden Vater für die finanzielle Basis des Haushalts zuständig ist und meine Großmutter mit ihrem gütigen Herzen im ganzen Haus ein Gefühl von Geborgenheit verbreitet, sorgt meine Mutter nicht nur für Lebensmittel, sondern auch für Lebensfreude.
    Die Liebe meiner Eltern zu Festen ist seit ihren ersten gemeinsamen Bällen bei der Gothia ungebrochen. Nur ein Weihnachtsfest muss ausfallen, da mein Vater Scharlach bekommt, Großmutter Neckermann zur selben Zeit mit Keuchhusten in ihrer Kammer liegt und Greta mit Diphtherie das Bett hüten muss.
    Der 40. Geburtstag meines Vaters am 27. August 1946 ist ein rauschendes Fest. Es wird, da die Apotheke für alle Gäste zu klein ist, in den ein paar Hundert Meter entfernten Garten verlegt. Das Gartenhaus ist festlich geschmückt, und in den Bäumen hängen Lampions. Mein Vater betrachtet seine Familie, seine Frau, die in ihrem bunten, langen, schwingenden Rock wie eine Zigeunerin aussieht und barfuß über die Wiese tanzt, seine vier Kinder, die wie die Orgelpfeifen dastehen, während sie ein von Mockel verfasstes Geburtstagsgedicht vortragen. Alle haben sie die Kriegsjahre gesund überstanden. Er selbst ist in den besten Jahren und ein erfolgreicher Geschäftsmann. Sie haben es geschafft, gemeinsam, und sie lieben einander. Er hat allen Grund, stolz zu sein.
    Auch zu dieser Familienfeier ist die fünfköpfige Neckermann-Familie angereist. Bis zum Morgengrauen wird getanzt. Dennoch hinterlässt das Fest einen Nachgeschmack. Necko beschimpft seine Schwester Mady im Laufe des Abends und wirft ihr vor, wie eine Schlampe auszusehen. Anlass für seinen Ausbruch, den alle hören und niemand versteht, ist eine Sicherheitsnadel, mit der meine Mutter ihren Rock in der Taille zusammengehalten hat.
    Es fällt mir schwer, die Beziehung meiner Mutter zu mir einzuordnen, obwohl ich im Laufe der Jahrzehnte viel darüber nachgedacht habe. Die Aussagen Dritter zeichnen ein Bild, mit dem ich mich nicht zufriedengeben will. Mehr Anhaltspunkte finde ich in ihren zahlreichen schriftlichen Äußerungen. Was meine Mutter darin über ihre Jüngste schreibt, klingt liebevoll meine Person betreffend und sorgenvoll, was meine Gesundheit angeht. Auch wenn sie nicht viel Zeit hat, wenn es darauf ankommt, ist sie da.
    Erst ein halbes Jahrhundert nach ihrem Tod öffnet sich mir die Tür zu unserer gemeinsamen Vergangenheit einen kleinen Spalt. Ein Foto, das ich beim Ordnen der Unterlagen entdecke und das mir nie zuvor aufgefallen ist, ruft eine Melodie in mir wach und mit ihr einen bis dahin verschwundenen Moment meiner Kindheit. Die Erinnerung ist verschwommen, aber mit starken Emotionen besetzt. Es ist eine kleine, braunstichige Fotografie mit gezacktem Rand, die an Weihnachten in Hofheim aufgenommen worden sein muss. Sie zeigt meine Mutter und mich am Esstisch. Im Hintergrund ist auf der einen Seite schemenhaft ein Weihnachtsbaum zu erkennen, auf der anderen ein Klavier. Ich kaue genüsslich an einem Hühnerbein. Meine Mutter schaut mich an, sehr ernst und sehr liebevoll. Im Vordergrund brennen Kerzen.
    Die Melodie eines Liedes kommt zu mir zurück, von dem ich plötzlich glaube, dass meine Mutter es in Hofheim gesungen hat. Das Lied ist traurig, weil es vom Abschied handelt und von einem Kind, das »Heitschi Bumbeitschi« heißt. Ich habe alle, die meiner Mutter begegnet sind, gefragt, ob sie das Lied »Heitschi Bumbeitschi« kennen. Von meinem Cousin Helmut Knab bekomme ich schließlich eine Antwort. Er kennt das Lied, auch wenn er sich nicht mehr daran erinnern kann, woher. Der Text klingt wie eine Vorahnung in meinen

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