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Wie ein Haus aus Karten

Wie ein Haus aus Karten

Titel: Wie ein Haus aus Karten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristin Feireiss
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Ohren: »Heitschi Bumbeitschi schlaf lange/ es ist ja dein Mutter fortgange/sie ist ja fortgange und kommt nimmer heim/und lässt ihr kleins Mädel allein daheim/Arme Heitschi Bumbeitschi, bum bum.«
    Eine andere Begebenheit aus der Hofheimer Zeit, die ein Schlaglicht auf die Beziehung zwischen mir und meinen Eltern wirft, wird in der Familie immer wieder kolportiert, bis auch ich sie eines Tages zu hören bekomme. Jahrzehnte hat sie in mir Schuldgefühle ausgelöst, Schuldgefühle meinen Eltern gegenüber. Sie wollen mit ihrer Tochter Juli nach Bad Kissingen zur Kur fahren. Von ihren Ältesten Uschi und Mockel haben sie sich bereits verabschiedet. Aber wo bin ich? Die Großfamilie verteilt sich über das Haus und die Umgebung, um die Vierjährige zu suchen. Mein Cousin Helmut erinnert sich an die Selbstmördereiche, wie sie von den Dorfbewohnern genannt wird. Er hat mich schon oft von dort nach Hause geholt.
    Ein Blitz hat den gewaltigen Stamm in der Mitte gespalten, so dass er wie eine Wunde aufklafft, deren geräumiges Inneres eine Höhle bildet. Ein Flüchtling hat sich in seinen Zweigen erhängt. Da der Tote nicht identifiziert werden kann und darum auch niemand seine Religionszugehörigkeit kennt, will ihn keine der beiden Kirchengemeinden des Dorfes beerdigen. Der katholische Pfarrer lehnt die Bestattung mit der Begründung ab, dass ein Selbstmörder keinen Anspruch auf die ewige Seligkeit habe. Der evangelische Pfarrer hat schließlich Erbarmen und begräbt ihn in geweihter Erde.
    Später wird direkt neben dem Baum ein Fußballplatz angelegt und im breiten Geäst der Eiche der Sitz des Schiedsrichters eingerichtet. Eisenhaken, die in den hohlen Stamm geschlagen sind, dienen als Treppe. Auch dort kann Helmut die Ausreißerin nicht finden, obwohl er weiß, dass in den dichten Zweigen mein Lieblingsplatz ist. Meine Eltern können nicht länger warten und fahren ab. In der Nähe des Güterbahnhofs, zwischen alten Gleisen und noch älteren, ausrangierten Waggons, werde ich Stunden später gefunden. Es beginnt schon zu dämmern. Meine erste ängstliche Frage lautet: »Sind die Langs schon weg?«
    Jahrzehnte später habe ich in Gesprächen mit meiner Cousine Annemie Knab etwas verstanden, was mich diese Begebenheit mit anderen Augen hat sehen lassen. In der turbulenten Großfamilie der Hofheimer Zeit, in der vor allem Tante Greta und Onkel Emil meine Bezugspersonen sind, ist mir wahrscheinlich gar nicht bewusst gewesen, dass die Langs, wie ich sie nenne, meine Eltern sind. Damals habe ich vor ihnen Angst, weil ich fürchte, dass sie mich mitnehmen.
    Auch Tante Greta hat Angst, wenn auch nicht vor ihrem Bruder und seiner Frau, so doch vor deren schlechtem Einfluss auf die Familie, der ihrem Kampf gegen die häusliche Unmoral immer wieder Rückschläge versetzt. Was soll sie machen, wenn meine Schwester Uschi während des gemeinsamen Sonntagsfrühstücks ins Wohnzimmer stürzt und ruft: »Weiß jemand, wer der fremde Mann in Mamis Bett ist?« Eine Antwort bekommt sie nicht, obwohl zumindest die Erwachsenen wissen, um wen es sich handelt. Er ist Vertreter in der Firma meines Vaters. Mein Cousin Helmut erzählt mir Jahrzehnte später, dass sich die beiden Männer gut verstanden haben.
    Meine Großmutter, die diese Szene miterlebt, verurteilt ihre Tochter nicht. Sie zweifelt auch in diesem, für alle Anwesenden peinlichen Moment nicht an der bedingungslosen Liebe zwischen Mady und ihrem Mann. Mady hat nach anfänglichen Bedenken das beherzigt, was ihr Mann ihr vorgelebt und für gut befunden hat, die freie Liebe in einer unverbrüchlichen Ehe. Leicht ist es ihr nicht gefallen, zu sehr ist sie auf ihren Mann fixiert, so sehr, dass sie fühlt, ihn nur halten zu können, wenn sie seine Freiheit nicht einschränkt.
    Ich finde gleich mehrere von meiner Mutter abgeschriebene literarische Texte über die Ehe, die deutlich machen, wie intensiv sie sich mit diesem Thema auseinandersetzt. Einer endet mit dem Satz: »Sich zu kennen gibt es keinen hinlänglichen Grund: Der menschliche Zustand ist so hoch in Leiden und Freuden gesetzt, dass ja nicht berechnet werden kann, was ein paar Gatten einander schuldig sind. Es ist eine unendliche Schuld, die nur durch die Ewigkeit abgetragen werden kann.« Der Autor ist nicht genannt. Meine Mutter weiß, dass das Gelingen oder Scheitern ihrer Ehe allein von ihr abhängt. Nicht nur von ihrer Toleranz, sondern vor allem von ihrer Akzeptanz des alle damals gängigen Moralvorstellungen

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